Kölner Stadtanzeiger vom 4. April 2008



Weniger lehren, effektiver lernen





Ministerin Schavan und Bildungsforscher Prenzel werben für das „Turbo-Abitur“ - und für eine Neuorganisation des Unterrichts


VON CHRISTIAN HÜMMELER

Die Aufregung um die verkürzte Gymnasiallaufbahn („Turbo-Abitur“) ist groß, und das nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Doch die Bundesbildungsministerin wirbt für Gelassenheit im Umgang mit dem G 8 und der Kritik daran: „Reformen brauchen einen langen Atem“, so Annette Schavan (CDU) über die Reifeprüfung nach acht statt nach neun Gymnasialjahren: „Man darf sich nicht immer gleich verrückt machen lassen.“ Gerade im internationalen Vergleich seien deutsche Abiturienten zu alt, findet die Ministerin. „Mit 17 oder 18 Jahren Abitur zu machen, ist doch besser, als mit 19 oder 20.“ Als Gast einer vom Elternforum Bildung, der Landeselternschaft und dem Philologen-Verband NRW veranstalteten Fachtagung zum Thema G 8 forderte die Ministerin gestern stattdessen eine sinnvollere Nutzung der Zeit nach dem Abitur: Der Übergang vom Gymnasium zur Universität müsse neu gestaltet werden, auch die Studieneingangsphase brauche eine bessere Organisation - gerade hier gelte es, Leerläufe und Irrwege zu vermeiden.

Statt einer Diskussion über Stundenzahlen und Mehrbelastungen wünscht sich die Bundesministerin „eine Weiterentwicklung der pädagogischen Verfassung an den Gymnasien“. Dazu gehöre vor allem der Wechsel vom herkömmlichen, bis ins Detail gehenden Lehrplan hin zu „Bildungsplänen“ und zu bundesweit vergleichbaren und prüfbaren Standards. Unterstützung bekam Schavan vom Kieler Bildungsforscher Manfred Prenzel, dem nationalen Projektmanager der letzten beiden Pisa-Studien: „Die Umstellung auf das G 8 ist eine fantastische Chance“. Der Unterricht in deutschen Schulen müsse sich verändern, um wirksamer zu werden - und dafür sei jetzt die Gelegenheit gegeben.
Änderungsbedarf, so Prenzel, gebe es bei allen Beteiligten. Die Lehrer etwa müssten über ihre Methoden nachdenken: „In Deutschland wird zu viel gelehrt und zu wenig gelernt.“ Richtiges Lernen aber brauche Zeit, daher müsse der Unterricht effektiver genutzt werden. Eine Gefahr sieht der Bildungsforscher zudem in einem von ihm beobachteten „kollektiven Arrangement zwischen Schülern, Eltern und Lehrern zugunsten eines kurzfristigen, prüfungsbezogenen und wenig nachhaltigen Lernens“. Hier sei eine weitergehende Überprüfung, etwa durch Bildungsstandards oder zentrale Prüfungen, nötig.

Ein weiteres Problem sei die häufig zu positive Einschätzung der individuellen Leistungsfähigkeit: „Lehrer wissen oft nicht, was ihre Schüler wirklich können und sicher beherrschen.“ Auch hier könnten durchgängige, überprüfbare Bildungsstandards für ein realistischeres Bild sorgen. Zwingend erforderlich, so Prenzel, sei zudem eine Neuorganisation des Schultags: „Der Unterricht muss über den ganzen Tag verteilt werden“ - und zwar zuzüglich Pausen, Zeit für Sport und für Freizeitangebote. Im Unterricht selbst wünscht sich der Pisa-Experte eine strikte Trennung zwischen Lernen und Leistungsüberprüfung: So sei es etwa geboten, die Messung der mündlichen Leistung genau zu kennzeichnen, um nicht jegliche Diskussion aus Angst vor falschen Antworten zu unterbinden.
All das will die Bildungsministerin ergänzt wissen durch eine wiedererstarkte Bildungsforschung an den einschlägigen Hochschulen und außeruniversitären Instituten, durch intensivere Fortbildung - und durch die Fähigkeit, sich innerhalb eines Lehrerkollegiums auch untereinander kritisieren zu können: Das Prinzip „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“, sei „Mist“, befand Schavan.



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