VON CHRISTIAN HÜMMELER
Die Aufregung um die verkürzte Gymnasiallaufbahn („Turbo-Abitur“) ist groß,
und das nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Doch die Bundesbildungsministerin
wirbt für Gelassenheit im Umgang mit dem G 8 und der Kritik daran:
„Reformen brauchen einen langen Atem“, so Annette Schavan (CDU) über die
Reifeprüfung nach acht statt nach neun Gymnasialjahren: „Man darf sich nicht
immer gleich verrückt machen lassen.“ Gerade im internationalen Vergleich
seien deutsche Abiturienten zu alt, findet die Ministerin. „Mit 17 oder 18
Jahren Abitur zu machen, ist doch besser, als mit 19 oder 20.“ Als Gast
einer vom Elternforum Bildung, der Landeselternschaft und dem
Philologen-Verband NRW veranstalteten Fachtagung zum Thema G 8 forderte
die Ministerin gestern stattdessen eine sinnvollere Nutzung der Zeit nach
dem Abitur: Der Übergang vom Gymnasium zur Universität müsse neu gestaltet
werden, auch die Studieneingangsphase brauche eine bessere Organisation -
gerade hier gelte es, Leerläufe und Irrwege zu vermeiden.
Statt einer Diskussion über Stundenzahlen und Mehrbelastungen wünscht sich
die Bundesministerin „eine Weiterentwicklung der pädagogischen Verfassung
an den Gymnasien“. Dazu gehöre vor allem der Wechsel vom herkömmlichen, bis
ins Detail gehenden Lehrplan hin zu „Bildungsplänen“ und zu bundesweit
vergleichbaren und prüfbaren Standards. Unterstützung bekam Schavan vom
Kieler Bildungsforscher Manfred Prenzel, dem nationalen Projektmanager der
letzten beiden Pisa-Studien: „Die Umstellung auf das G 8 ist eine
fantastische Chance“. Der Unterricht in deutschen Schulen müsse sich
verändern, um wirksamer zu werden - und dafür sei jetzt die Gelegenheit
gegeben.
Änderungsbedarf, so Prenzel, gebe es bei allen Beteiligten. Die Lehrer
etwa müssten über ihre Methoden nachdenken: „In Deutschland wird zu viel
gelehrt und zu wenig gelernt.“ Richtiges Lernen aber brauche Zeit, daher
müsse der Unterricht effektiver genutzt werden. Eine Gefahr sieht der
Bildungsforscher zudem in einem von ihm beobachteten „kollektiven
Arrangement zwischen Schülern, Eltern und Lehrern zugunsten eines
kurzfristigen, prüfungsbezogenen und wenig nachhaltigen Lernens“. Hier
sei eine weitergehende Überprüfung, etwa durch Bildungsstandards oder
zentrale Prüfungen, nötig.
Ein weiteres Problem sei die häufig zu positive Einschätzung der
individuellen Leistungsfähigkeit: „Lehrer wissen oft nicht, was ihre
Schüler wirklich können und sicher beherrschen.“ Auch hier könnten
durchgängige, überprüfbare Bildungsstandards für ein realistischeres
Bild sorgen. Zwingend erforderlich, so Prenzel, sei zudem eine
Neuorganisation des Schultags: „Der Unterricht muss über den ganzen Tag
verteilt werden“ - und zwar zuzüglich Pausen, Zeit für Sport und für
Freizeitangebote. Im Unterricht selbst wünscht sich der Pisa-Experte
eine strikte Trennung zwischen Lernen und Leistungsüberprüfung: So sei
es etwa geboten, die Messung der mündlichen Leistung genau zu
kennzeichnen, um nicht jegliche Diskussion aus Angst vor falschen
Antworten zu unterbinden.
All das will die Bildungsministerin ergänzt wissen durch eine
wiedererstarkte Bildungsforschung an den einschlägigen Hochschulen und
außeruniversitären Instituten, durch intensivere Fortbildung - und durch
die Fähigkeit, sich innerhalb eines Lehrerkollegiums auch untereinander
kritisieren zu können: Das Prinzip „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge
aus“, sei „Mist“, befand Schavan.