Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Ich habe diese Anfrage sofort zerrissen, weil ich in ihr nur den Versuch sah, der Öffent- Im Nachhinein aber habe ich mich darüber geärgert, nicht reagiert zu haben; denn ich hätte schreiben sollen:
Unsere ‚Aktionen' gegen Gewalt von allen Seiten(1) sind:
Und ich glaube wirklich, dass diese drei Faktoren die beste, weil radikalste Prävention gegen jede Form von Gewalt gegenüber anderen Menschen sein können; denn das christliche Gottes- und Menschenbild, wie es uns im Alten und Neuen Testament geschenkt ist, ist die "radix", die Wurzel christlicher Solidarität und Nächstenliebe. In 9 Jahren an unserem Gymnasium, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ist in nahezu 2000 Morgengebeten immer wieder unser Verhältnis zu Gott und zu den Menschen zur Sprache gekommen und ist Fürbitte für andere gehalten worden. Sollte das wirklich keine Wirkung haben? Im "Schuldbekenntnis" zu Beginn der Hl. Messe bekennen wir Christen vor Gott und vor einander, dass wir "Gutes unterlassen und Böses getan habe(n). Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken. Damit wird uns immer wieder vor Augen gehalten: die "Sünde" besteht nicht erst in körperlicher Gewalt, vielmehr kann man auch mit Worten "gewalttätig" sein und schließlich beginnt die Gewalt im Kopf, in den Gedanken(2) und man kann sich nicht selbst entschuldigen durch den Hinweis auf andere oder auf die Verhältnisse, sondern wir klopfen an die eigene Brust und bekennen voreinander: "durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld und wir bitten um Fürsprache bei Gott, der allein entschuldigen kann. Auch im Religionsunterricht sind Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, immer wieder grundlegenden Texten der Offenbarung begegnet. So vermittelt uns die Schöpfungserzählung den Glauben, dass jeder Mensch "Ebenbild Gottes" ist – jeder ist gleich wertvoll, jeder besitzt dieselbe Menschenwürde, unabhängig von seiner Hautfarbe, unabhängig von seiner Nationalität, unabhängig von seinem gesellschaftlichen Stand, unabhängig von seinem Beruf, seiner Arbeitskraft, seiner Kaufkraft und – im Gegensatz zu Äußerungen des Kulturministers - auch unabhängig von der Fähigkeit zur Selbstachtung; jeder besitzt dieselbe Menschenwürde, ob geboren oder noch nicht geboren, ob jung oder alt, ob gesund, krank oder behindert, ein Gedanke, der sich auch bei Matthäus findet: "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,45). Entsprechend sendet der auferstandene Herr die Apostel nicht exklusiv zu ausgewählten Menschen und Völkern; vielmehr lautet sein Auftrag: "Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern" (Mt 28,19) und entsprechend ist Kirche grundsätzlich immer "katholisch" – alle Menschen und alle Völker umfassend. Aber auch schon in der Erzählung von Kain und Abel (Gen 4) wird die Frage "Bin ich denn der Hüter meines Bruders?" eindeutig mit ja beantwortet. Entsprechend kümmert sich der Samariter um den Juden, der auf dem Weg nach Jericho unter die Räuber gefallen ist, obwohl das Verhältnis beider Volksgruppen nicht spannungsfrei ist, und entsprechend kann ich als Schulleiter eines katholischen Gymnasiums bei gelegentlichen Rangeleien kleinerer Schüler ganz selbstverständlich zu bedenken geben: Gott hat uns die Hände gegeben - nicht, damit wir sie zur Faust ballen und dem anderen ins Gesicht schlagen, sondern damit wir uns die Hände reichen können. Er hat uns den Mund gegeben - nicht, damit wir andere bespucken, sondern damit wir miteinander sprechen können. Er hat uns die Füße gegeben - nicht, damit wir andere treten, sondern damit wir aufeinander zugehen können. Und ebenso selbstverständlich kann ich als Schulleiter eines Katholischen Gymnasiums auch Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sagen: Gott hat uns die Freiheit gegeben - nicht, damit wir tun und lassen, was wir wollen nach dem Motto "das muss jeder selber wissen"; Gott hat uns die Freiheit gegeben, um uns als Partner in die Mitverantwortung für die Zukunft zu nehmen – für das Heil der Menschen. Alle aufgeführten Aspekte - und die Liste ist nicht vollständig - können an unserem Gymnasium über 9 Jahre nicht ohne Wirkung bleiben, und sie haben diese Wirkung um so mehr, weil praktisch alle Eltern als Christen unsere Überzeugungen teilen und in diesen Fragen ein breiter Grundkonsens vorhanden ist. Entsprechend positiv ist es für die Schüler zu erleben, dass sich so viele Eltern ehrenamtlich in das Schulleben einbringen, nicht etwa zum Nutzen der eigenen Kinder, sondern solidarisch für das Schulganze, und dass sich auch das Lehrerkollegium insgesamt weit über das Normalmaß hinaus für unsere Schüler engagiert. In Bezug auf die Eltern haben Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, z.B. täglich erleben können, dass Sie in Freistunden die Bibliothek nur deshalb benutzen konnten, weil Mütter Aufsicht führen. Die Eltern arbeiten in den Fachkonferenzen mit, begleiten die Arbeit der Schule in der Schulpflegschaft, in der Schulkonferenz und im Förderverein, engagieren sich in Ausschüssen und bei Schulfesten und haben auch für die Vorbereitung des nächsten Schulballs wieder die Federführung übernommen. Auch beim Schülerticket war nicht zu übersehen, dass der Ticket-Ausschuss überwiegend aus Elternvertretern besteht und dass die Eltern auch im politischen Bereich sowie in Presse und Fernsehen eine gute Figur machten. Dabei ging es aber wieder nicht darum, einen "Lastenausgleich" unter den Eltern verschiedener Wohnorte zu erreichen, sondern um "Solidarität mit der katholischen Schule". Auch die Eltern waren davon überzeugt, dass ein katholisches Gymnasium grundsätzlich für alle Kinder offen sein muss, unabhängig vom Wohnort und den damit verbundenen Fahrtkosten und damit unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern. Ich nutze gern die Gelegenheit, Frau Römer-Moch für die Schulpflegschaft, Herrn Helmes für den Förderverein, Herrn Dr. Merkt für den Ehemaligenverein und Ihnen allen, liebe Eltern, für Ihre ideelle und materielle Unterstützung zu danken, sie gleichzeitig auch einzuladen, unserem Gymnasium über das Abitur der eigenen Kinder hinaus verbunden zu bleiben, z.B. als Mitglied des Fördervereins. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auch in Bezug auf die Lehrer haben Sie an unserem Gymnasium viel Engagement über das Normalmaß hinaus erleben können, haben es aber vielleicht gar nicht wahrgenommen oder gar für selbstverständlich gehalten und haben dieses Engagement deshalb auf Ihrer Internet-Seite kaum gewürdigt. Doch ist es wirklich "selbstverständlich", dass in den letzten Schuljahren immer wieder einzelne Lehrer Unterricht erteilt haben, ohne dafür bezahlt zu werden? "Regulären" Unterricht - keine Vertretungsstunden! Das Motiv? Solidarität mit den Schülern! - Für Schülergruppen, die für das NRW-Einheitsmaß zu klein sind, Laufbahnen zu erhalten oder Arbeitsgemeinschaften zu ermöglichen, für die eigentlich keine Stunden mehr zur Verfügung stehen! Ist es wirklich "selbstverständlich", dass Lehrerinnen und Lehrer mit Teilzeitverträgen an mehrtägigen Veranstaltungen wie Klassenfahrten, Studienfahrten und Seminarveranstaltungen für Schüler die volle Zeit teilnehmen und ihre freien Tage einbeziehen, ohne diese Mehrarbeit bezahlt oder in Freizeit ausgeglichen zu bekommen? Dasselbe gilt für die Skifahrt der Oberstufe, für Probenwochenenden einzelner Musik- und Theatergruppen, für das Trainingslager der Leichtathleten, für die religiösen Wochenenden der Klasse 6 u.a.m. Immer verzichten Lehrerinnen und Lehrer dabei auf freie Tage und opfern sogar Sonn- und Feiertage dafür. Das Motiv? Solidarität mit den Schülern! – engagierten Schülern Angebote machen über das Normale hinaus! Lehrer-Sein ist eben nicht nur Job, sondern Beruf im Sinne von Berufung und Dienst an Menschen. Ist es wirklich "selbstverständlich", dass eine ehemalige Kollegin einem Schüler, der beim Eintritt in unser Gymnasium kein Wort Deutsch sprach, ohne Bezahlung Deutschunterricht erteilt und ihm damit den Weg zum Abitur und in eine gesicherte Zukunft ermöglicht? Ist es wirklich "selbstverständlich", dass auch das Kollegium in diesem und in zahlreichen vergleichbaren Fällen die dadurch bedingten Zusatzbelastungen im Fachunterricht immer mit trägt? Das ist moralisches Handeln und kein katholisches Moralgetue! Ist es schließlich "selbstverständlich", dass ein katholisches Gymnasium gerade in solch schwierigen Fällen Schüler aufnimmt und ihnen den Weg bereitet, wobei man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, dass diese Kinder und ihre Eltern an anderen Schulen nicht gerade mit offenen Armen empfangen werden? Die Antwort lautet: Ja, das ist selbstverständlich, und zwar ohne Ansehen der Herkunft und der Religion. Ich bin unserem Erzbistum dankbar, dass wir von ihm in dieser Auffassung unterstützt werden, ich bin den Eltern dankbar, dass sie das Engagement des Kollegiums sehen und anerkennen und ich bin den Schülern dankbar, dass auch sie offen und ansprechbar sind für solidarisches Handeln. Stellvertretend für alle möchte ich denen unter Ihnen besonders danken, die sich in der SV für die Belange der Mitschüler eingesetzt haben und dafür auch nicht immer die verdiente Anerkennung gefunden haben – nicht einmal bei den Mitschülern. Natürlich bleibt festzuhalten: "Jedes Paradies hat seine Schlange" und natürlich ist auch an unserem Gymnasium nicht alles in Ordnung. Wir alle müssen bekennen, dass wir immer wieder "Gutes unterlassen und Böses getan haben". Auch bei uns wird "gesündigt in Gedanken, Worten und Werken"; aber wir bitten Gott und einander immer wieder um Vergebung und bleiben als Christen aufgefordert, Solidarität und Nächstenliebe nicht nur im Munde zu führen. und von anderen zu erwarten, sondern sie selbst zu praktizieren. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Eltern und Lehrer haben in den letzten Jahren viel für Ihre Zukunft getan, nun sind Sie selbst an der Reihe. Sie sorgen in den kommenden Jahren der Berufsausbildung oder des Studiums für Ihre eigene Positionierung in unserer Gesellschaft. Was Sie einmal sein werden, welche Rolle Sie spielen, welchen Einfluss Sie haben werden, liegt nun an Ihnen selbst. Ich bin überzeugt, dass unsere Schule Ihnen das nötige Rüstzeug mit auf den Weg gibt; das werden Sie in ein paar Jahren rückblickend besser beurteilen können als heute. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass viele von Ihnen bisher zu wenig aus ihren Möglichkeiten gemacht haben und dies vielleicht schon ein wenig bereuen. Positiv gewendet, heißt das jedoch: Viele von Ihnen können mehr, als sie bisher gezeigt haben. Vergraben Sie daher Ihre Talente nicht länger und verschlafen Sie Ihre Zukunft nicht, sondern nutzen Sie Ihre Möglichkeiten im Wissen darum, dass die Aussichten für Abiturienten lange nicht mehr so günstig waren wie heute. Vergessen Sie aber bitte nie, dass wir als Christen nicht für uns allein leben(3), sondern dass wir in jeder Position, die wir einnehmen, auch für die anderen verantwortlich sind(4). Die Zukunft nicht verschlafen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, bedeutet zweitens, sich nicht aus der politischen Diskussion heraus zu halten; denn Ihr Leben wird auch von den künftigen Veränderungen in unserer Gesellschaft entscheidend bestimmt sein. Diese Veränderungen kommen nicht schicksalhaft auf Sie zu, vielmehr werden die Weichen für die Veränderungen heute gestellt und es liegt an Ihnen, ob sie aktiv Weichensteller sein wollen oder ob sie über die von anderen gestellten Weichen in eine fremdbestimmte Zukunft fahren müssen.(5)Mein Appell an Sie lautet: Zukunft ist nichts, was Sie den politischen Parteien oder anderen Meinungsmachern überlassen sollten. Nehmen Sie Ihre Zukunft selbst in die Hand! Seien Sie kritisch – auch selbstkritisch – und lassen Sie sich das Denken nie von anderen abnehmen oder gar verbieten! Das bedeutet natürlich, dass Sie sich nicht in der Gegenwart verlieren dürfen – "erst der Spaß, dann das Vergnügen!"(6) – und dass Sie sich geistig nicht verdummen lassen dürfen, weder von der Unterhaltungsindustrie noch von den Medien noch von der Politik selbst. Wie unterschiedlich z.B. ein und dieselbe Sache politisch bewertet werden kann, haben die Auseinandersetzungen um die Person von Außenminister Fischer gezeigt. Musste man von Seiten der eher linken Parteien fast den Eindruck gewinnen, als gäbe es ohne die 68er keine echte Demokratie in Deutschland, so hat Frau Römer-Moch in einem Leserbrief im Rheinischen Merkur offenbar eine etwas andere Sicht der Dinge und auch ich habe als Student diese Zeit eher anders in Erinnerung. Die Studentenbewegung "kam aus Amerika und hatte ihre Anfänge in der Ablehnung des Vietnam-Krieges. In Deutschland wandte sie sich schnell ganz anderen Zielen zu [...]. Man beklagte schaudernd das Fehlen einer gesellschaftlichen »Theorie« und empörte sich, daß beim wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau der Bundesrepublik angeblich versäumt worden war, die Verbrechen der Nazi-Zeit »aufzuarbeiten« und gebührend zu verurteilen. Viele junge Leute ließen sich unvergorene kommunistische und anarchistische Ideologien und Utopien aufschwatzen. Über den demonstrativen Protest hinaus entstand eine Haltung gegenüber Staat und »Establishment«, die durchaus gewaltbereit war und sich dabei keineswegs auf »Gewalt gegen Sachen« beschränkte. Man griff in ähnlicher Weise zu Gewalt wie die Nazis 1932 und 1933.(7) Inzwischen sind die meisten Achtundsechziger ganz normale Mitbürger geworden. Aber viele von ihnen finden es selbst in ihrem mittleren Lebensalter immer noch schwierig, unseren Staat und unsere Gesellschaft als die ihrigen anzuerkennen [...]. Und die heutigen Gewaltverbrechen gegen Ausländer oder die Anschläge gegen Castor-Transporte erinnern daran, daß es die Achtundsechziger waren, die erstmals seit Hitler wieder politisch motivierte Gewalt auf unseren Straßen verbreiteten."(8) Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, vielleicht haben sich einige von Ihnen innerlich schon über mich empört und in eine bestimmte Ecke gerückt, doch ich habe nur Helmut Schmidt zitiert, der diese Zeit als Minister und als Bundeskanzler hautnah erlebt hat. Ich teile seine Auffassung(9) und bin meinerseits empört, dass dieselben, die damals den Vorwurf erhoben, die Nazi-Vergangenheit sei nicht aufgearbeitet worden, und die daher mit Beifall bedachten, dass ein Bundeskanzler geohrfeigt wurde, dass dieselben Leute - auch unser Bundeskanzler - die DDR-Vergangenheit nicht aufarbeiten und nach kaum mehr als 10 Jahren einen Schlussstrich ziehen und mit der SED-Nachfolge-Partei Bündnisse eingehen wollen, einer Partei, die Innenminister Schily weiter vom Verfassungsschutz beobachten lässt, weil es "tatsächliche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen" gibt.(10) Achten Sie daher immer darauf, was gesagt wird, und nicht, wer etwas sagt, und prüfen Sie, ob das, was gesagt wird, "wahr" ist. Die Möglichkeiten dazu waren nie so groß wie heute. Seien Sie sich dabei bewusst, dass Politik immer mit Interessen, mit Macht und Machtverteilung zu tun hat und selten von der reinen Menschenfreundlichkeit bestimmt wird. Oder glauben Sie etwa, dass die geplante Erhöhung des Kindergeldes auch nur entfernt etwas mit einer neuen Wertschätzung der Familie zu tun hätte? Wenn Sie Zeitung lesen, wissen Sie, dass das Bundesverfassungsgericht die Politik zu dieser und weiteren Maßnahmen verpflichtet und dass Familien mit Kindern auch weiterhin einen deutlich schlechteren Lebensstandard haben als Partnerschaften von Doppelverdienern ohne Kinder. Der Nutzen der Kinder wird trotz aller schönen Worte weiterhin sozialisiert, die Belastung durch Kinder bleibt privatisiert. Und dann sollen sich junge Leute für Kinder entscheiden?(11) Und doch sollten Sie es tun, liebe Abiturientinnen und Abiturienten; denn wenn Ihre Eltern so gedacht hätten wie viele junge Leute heute, säßen Sie vielleicht nicht hier und unsere Sozialsysteme wären noch gefährdeter als sie es ohnehin schon sind. Wie nämlich sollen sie funktionsfähig bleiben, wenn immer weniger junge Menschen immer mehr Alte versorgen müssen?(12) Mit einer Greencard können vielleicht Menschen aus dem Ausland zu uns gelockt werden, um in Spitzenjobs viel Geld zu verdienen, aber wohl kaum zum Besuchsdienst im Altenheim. Wer also wird Sie im Alter besuchen, wenn nicht Ihre eigenen Kinder? Wer wird sich um Sie kümmern? Utilitarismus ist nur gut, solange man nützlich ist. Wehe, man ist auf der falschen Seite! Haben Sie auch schon einmal bedacht, dass die Sicherung des eigenen Systems durch das Anwerben von Ausländern durchaus auch unmoralische Züge hat? Wir wollen unseren Wohlstand sichern, indem wir die Intelligenz aus Schwellenländern abwerben, wo sie eigentlich dringend gebraucht wird. Entwicklungshilfe ist das jedenfalls nicht. Aber machen wir es uns in anderen Bereichen nicht auch gern bequem und kommen uns noch besonders modern vor? Überbevölkerung gehen wir nur mit der Chemie der Pille an und für Aids in Afrika bieten wir nur Kondome, nicht etwa Geld für Bildung, nicht etwa preiswerte Medikamente auch für Arme.(13) Und wir verdrängen dabei allzu gern das simple Wissen, dass Kondome, die wir als Mittel zur Empfängnisverhütung eher für "unsicher" halten, unmöglich ein "sicherer" Schutz gegen Aids-Viren sein können. Dabei gibt es ja auch andere Ansätze: "Ich halte weiterhin die Rückkehr zu unseren bewährten Traditionen hoch, die zur Treue ermutigten und vor- und außereheliche sexuelle Beziehungen ablehnen. Ich glaube, dass die beste Antwort auf die Bedrohung AIDS und andere, durch die Sexualität übertragene Krankheiten, die ist, öffentlich die Achtung, die jeder Mensch seinem Nachbarn schuldet, neu zu bekräftigen. Wir müssen jungen Menschen die Tugend der Enthaltung, der Selbstkontrolle, der Fähigkeit zu warten, Opfer zu bringen beibringen."(14) Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auch das ist kein katholisches Moralgetue und es ist auch kein Zitat von Papst Johannes Paul II.; nein, so hat sich Ugandas Präsident Museveni schon 1992 auf dem Welt-Aids-Kongress in Florenz zu Wort gemeldet und dazu passt, dass es in diesem Jahr in Uganda eine große Anzeigenkampagne für eheliche Treue gibt.(15) Diese Informationen finden Sie aber in kaum einer Zeitung. Warum? Weil sie bei uns nicht gefragt sind, weil sie nicht in unser Weltbild passen, weil wir sie nicht hören wollen.(16) Doch: "wer nicht hören will, muss fühlen", sagt ein altes Sprichwort und deshalb sollten Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, vor allem im Bereich der Gentechnologie die Ohren weit offen halten, ein Bereich, der nicht nur für die Zukunft jedes einzelnen von Ihnen von fundamentaler Bedeutung ist, sondern in dem Sie so oder so, aktiv oder durch Ihre Passivität, mit entscheiden, ob es für die Menschheit demnächst eine "schöne neue Welt" geben wird.(17) Um Ihnen die Brisanz dieser Frage bewusst zu machen, zitiere ich wie schon im vergangenen Jahr die Bemerkung des Hauptgeschäftsführers der Bundesärztekammer Professor Fuchs, dessen Kinder bei uns Abitur gemacht haben: "Es soll in Deutschland keiner mehr sagen können, die Gesellschaft habe nicht gewusst, worum es geht."(18) Die Gentechnologie wirft - zugeben – nicht ganz einfache Fragen auf und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die Anstrengungsbereitschaft sinkt und das Interesse der Menschen verflacht(19); doch sind die Fragen auch nicht so kompliziert, dass sich Abiturienten nicht eine eigene begründete Meinung bilden könnten - wenn Sie hinhören und z.B. die vielfältigen Informationsmöglichkeiten des Internet nutzen. Achten Sie aber wieder nicht darauf, wer etwas sagt, sondern hören Sie, was gesagt wird. Es sollte Sie z.B. hellhörig machen, dass die politische Diskussion bei uns letztlich erst begonnen hat, nachdem Premierminister Tony Blair erklärt hatte, der Markt für therapeutisches Klonen sei "allein in Europa etwa 100 Milliarden Dollar schwer."(20) Entsprechend hat auch Bundeskanzler Schröder zunächst unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten argumentiert(21) und eine Diskussion "ohne ideologische Scheuklappen" gefordert. Als er Widerspruch wahrnehmen musste, hat er gereizt reagiert und die Keule herausgeholt: "Ich sehe die Gefahr, dass die Diskussion emotional beeinflusst wird von einem Bündnis zwischen Fortschrittsfeindlichkeit in unserer Gesellschaft und konservativem Fundamentalismus."(22) Wer sollte es jetzt noch wagen Gegenposition zu beziehen? Wer will sich schon dem Vorwurf aussetzen, nicht rational, sondern emotional zu diskutieren, fortschrittsfeindlich zu sein oder konservativ oder gar Fundamentalist?(23) Als aber selbst das nichts half, kam das Argument der Arbeitsplätze; dann sprach er vom ethischen Anspruch auf Arbeit und jetzt sind wir bei der "Ethik des Heilens" angekommen. Es sollte Sie hellhörig machen, dass der Ministerpräsident unseres Landes zur selben Zeit, als der Deutsche Bundestag in Berlin über diese Fragen diskutierte, in Israel über den Import von Stammzellen für Forschungen an der Uni Bonn gesprochen hat. Auf eine kritische Frage antwortete er im Fernsehen gereizt: angesichts der Globalisierung der Forschung "hört der Spaß jetzt aber auf!" Ich frage mich: Wie ernst nimmt unser Ministerpräsident die ethische Diskussion, wenn der Spaß aufhören muss? Wie ernst nimmt er das vom Volk gewählte Parlament? Doch weil die Kritik – auch aus den eigenen Reihen(24) – nicht verstummt, hat auch er die Taktik geändert und deutet die Forschung an embryonalen Stammzellen nun gar als einen Akt christlicher Nächstenliebe.(25) Dabei stellt Herr Clement "Das Schutzbedürfnis schwer kranker Menschen gegen das Schutzbedürfnis künstlich befruchteter humaner Eizellen, die nicht bestimmt sind, zu einem Menschen zu werden." Und verweist darauf, "dass die aus ihnen gewonnenen Stammzellen eben keine Embryonen mehr seien."
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
Warum sind es denn keine Embryonen mehr? Und wer entscheidet, welche künstlich befruchteten humanen Eizellen nicht dazu bestimmt sind, zu einem Menschen zu werden? Stimmt es denn überhaupt, dass eine befruchtete humane Eizelle kein Mensch ist, sondern es erst noch werden muss?(26) "Brüder, seid nüchtern und wachsam", heißt es im 1. Petrus-Brief. Dieser Satz ist so aktuell wie eh und je, liebe Abiturientinnen und Abiturienten. Seien Sie nüchtern und wachsam, "wenn jemand in unseren Genen experimentiert und uns nichts als Vorteile von dieser Forschung verspricht"(27); denn – um noch einmal Helmut Schmidt zu zitieren - "eine Politik ohne Grundwerte ist zwangsläufig gewissenlos, sie ist eine Politik der moralischen Beliebigkeit und tendiert zum Verbrechen."(28) Den neuen Heilsversprechungen der Wissenschaft sollten wir immer wieder die Vision von Heinrich Böll entgegenhalten: "Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache; und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen."(29) "Leben steht über Kommerz", hat Bundespräsident Rau formuliert.(30) Dafür sollten wir gemeinsam streiten mit den erfreulich zahlreichen Gruppierungen, die sich innerhalb und außerhalb der Kirche zu Wort melden.(31) Wir dürfen das Feld nicht Nobelpreisträgern überlassen, die uns einreden wollen, "warum wir Gott nicht mehr die Zukunft des Menschen überlassen können."(32) In der Papstbiografie von Jan Roß, der sich selbst als "nicht katholisch" bezeichnet, heißt es: "Man kann darüber streiten, wie wahrscheinlich es ist, daß alles wirklich so schlimm kommt. Schwerlich bestreiten kann man, daß die Lebensschutzphilosophie des Papstes die einzige weit und breit darstellt, die auf diese Herausforderungen eine schlüssige Antwort bietet. Sie ist eine Oase der Konsequenz in einer Wüste der Heuchelei."(33) Und deshalb möchte ich Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, abschließend ein Wort unseres Papstes mit auf den Weg geben: "Gebt acht! Euer Leben ist kein endloser Tag der offenen Tür! Hört in euer Herz hinein! Begnügt euch nicht mit der Oberfläche, sondern geht den Dingen auf den Grund! Und wenn es Zeit ist, habt den Mut, euch zu entscheiden. Der Herr wartet auf euch, daß ihr eure Freiheit in seine guten Hände legt."(34) Gott schütze und begleite Sie auf Ihrem weiteren Lebensweg.
(1)Unzulässig und nicht ungefährlich ist es, "Aktionen gegen Rechtsextremismus" oder "gegen rechte Gewalt" sprachlich zu verkürzen auf "Aktionen gegen rechts"; denn es gibt auch "Linksextremismus" und "linke Gewalt" und Gewalt von so genannten "autonomen" Gruppen. Sonst besteht die Gefahr, dass man zu unterscheiden beginnt zwischen guter und schlechter Gewalt. Jede Form von Gewalt gilt es zu bekämpfen. Vgl. dazu Ernst Cramer in: DIE WELT vom 11.11.00 zum Berliner Demonstrationszug am 9. November 2000.: "Und doch war diese Veranstaltung nicht ganz frei von Intoleranz. Nicht wenigen in der Menge ging es nicht nur um Rechtsextremismus; sie waren vielmehr ganz einfach gegen alles, was konservativ, also "rechts" ist. Das wurde nicht nur einmal deutlich, durch Pfiffe ebenso wie durch Beifall. Auf einem mitgeführten Plakat stand ganz oben "Ruck nach links", und viele stimmten zu. Das aber ist ein falsches Signal. Gegen jeden politischen Radikalismus, nur das darf die Parole sein."
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