Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
im Gegensatz zu unserer Fußballnationalmannschaft, die die Qualifikation für die Europameisterschaft noch nicht geschafft hat, halten Sie gleich Schwarz auf Weiß in Händen, dass Sie alle Hürden der Qualifikationsphase genommen und z.T. ganz beachtliche Ergebnisse erzielt haben. Dazu gratuliere ich Ihnen – auch im Namen unseres Lehrerkollegiums – ganz herzlich und nutze die letzte Gelegenheit, Ihnen mit den Glückwünschen für eine gute Zukunft ein paar Gedanken mit auf den Weg geben. Ausgehen möchte ich von Kardinal Meisner, der am 5. Februar diesen Jahres in der Schulmesse unserer Klassen 6-8 anlässlich der Firmung von 3 Schülern darauf hingewiesen hat, dass man beim Konjugieren von Verben immer mit der 1. Person Singular beginnt: erst kommt das Ich, dann erst das Du und an 3. Stelle Er, Sie, Es. In unserer Gesellschaft, im Leben der Menschen sei das nicht anders: erst kommt das Ich, dann erst das Du und erst an 3. Stelle das Er, nämlich Gott. Dagegen stellte er die Konjugation des Christentums: erst kommt Er, Gott, unser Schöpfer und Vater; dann kommt das Du und danach erst das Ich. Und er behauptete, dass die christliche Konjugation die Welt verändern könne. Wenn man diesen Gedanken aufgreift, so meint man schon die ersten Kritiker zu hören: das sei typisch für die Amtskirche: sie habe eine negative Einstellung zur Welt und zu den Menschen und mache alles schlecht. Dagegen ließe sich manches einwenden; doch ist das allein deshalb nicht notwendig, weil mittlerweile ähnlich kritische Bemerkungen auch aus anderen Richtungen kommen, von denen man es nicht unbedingt erwarten würde.1 So hat erst vor kurzem der Arzt und Psychiater Klaus Dörner in einem Interview der ZEIT formuliert: "Meine Generation ist die egoistischste, die es je gegeben hat." Und er fährt fort: "Sie hat sich hohe Renten zugebilligt auf Kosten der früheren und nachfolgenden Generation."2 Folgerichtig nimmt die Rentenproblematik einen Großteil der aktuellen politischen Diskussion in Anspruch; denn nun wird langsam auch dem Letzten klar, den Alten wie den Jungen, dass die Verantwortlichen fahrlässig von einem stetigen Wachsen der Wirtschaft ausgegangen sind, dass die Verantwortlichen im Bereich der Beamtenpensionen fahrlässig keine Rücklagen gebildet haben und dass die meisten der mittleren Generation - bereitwillig und ach so aufgeklärt - die Frage verdrängt haben, wie immer weniger junge Menschen immer mehr alte Menschen versorgen sollen – und das nicht nur materiell in Form von Renten, sondern auch ideell in Form von Betreuung.3 Dabei hat man vom Statistischen Bundesamt sicher nicht erst heute erfahren, dass die Alterspyramide unseres Volkes selbst bei 200.000 Zuwanderern pro Jahr in 50 Jahren total auf dem Kopf stehen wird.4 Aber offensichtlich hat es die Politik und haben es die Presse und wir alle nicht wahrhaben wollen: mit stark rückläufigen Geburtenzahlen sägen wir den Ast ab, auf dem wir selbst sitzen. Dies deutlich zu sagen, wagt die Politik aber immer noch nicht; denn man sagt Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, nicht: es werden für Ihre Zukunft zu wenige Kinder geboren und darum müssen wir Familien mit Kindern vorrangig fördern5, sondern man spricht verschleiernd vom "demographischen Faktor" bzw. neuerdings - noch verschleiernder - vom "Nachhaltigkeitsfaktor".6 Die Politik sagt nicht die Wahrheit, weil dann die 68-er, die nach dem strategisch geplanten Marsch durch die Institutionen heute im Zentrum der Macht stehen, ihre Fehler eingestehen und zu Positionen aufrufen müssten, die sie früher verteufelt haben.7 Sie müssten zugeben, dass der Aufruf zur sogenannten sexuellen Befreiung und zur Selbstverwirklichung ein Aufruf zum Egoismus war und ist und dass der Egoismus in aller Regel dazu führt, das Paradies zu verlieren. Bibellesern ist dieser Zusammenhang schon aus dem 1. Buch des Alten Testaments vertraut; sie wissen vom Baum der Erkenntnis und vom Turmbau zu Babel: Wer sein will wie der absolute Gott und daher die absolute Autonomie des Menschen predigt, verliert das Paradies.8 Die Strafe ist Folge der Tat: ein Volk, das sich nicht mehr reproduzieren will, gibt seine Zukunft auf und stirbt9. Sterben ist aber u.U. ein langwieriger und schmerzhafter Prozess! Auf diese Zusammenhänge hat die Kirche immer wieder hingewiesen. Aber wer wollte und will schon auf sie hören – gestern wie heute? War es nicht Papst Paul VI.10, der schon 1968 in seinem Lehrschreiben "Humanae vitae" gegen die herrschende Meinung weitsichtig vor der Trennung von Sexualität und Zeugung durch die Pille gewarnt hat und dafür mit Kritik geradezu bombardiert und als "Pillen-Papst" diskriminiert wurde? Wer hätte sich damals vorstellen können, dass 35 Jahre später nicht etwa in der Kirchenzeitung, sondern in der ZEIT, die nicht gerade das Hausblatt der Konservativen ist, ein Artikel erscheinen würde, in dem unter der Überschrift "Warum Kinder?" der Verlust der Liebe beklagt wird? Ich will ihn zitieren, um Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, am Beispiel der Generation Ihrer Eltern zu zeigen, wie damals die Frage nach dem, was für die Menschen objektiv gut ist, von subjektiven Meinungen verdrängt worden ist11 und wie sich Meinungen im Verlauf eines Menschenlebens ändern können, die Folgen falscher Meinungen aber nicht kurzfristig zu ändern sind, sondern die Fehler der Elterngeneration von der nachfolgenden Generation ausgebadet werden müssen: "Die Frage […]: Will ich ein Kind?, und die neueste Frage: Welches Kind will ich?, ist revolutionär. Nie zuvor hat sich eine Frau derlei fragen dürfen oder müssen. Nie zuvor hatten Paare die Wahl. Das Kind kam oder es kam nicht. […] Als die Pille Anfang der sechziger Jahre auf den Markt kam und jede Frau sie ziemlich leicht kriegen konnte, erschien der Engel der Freiheit. Die Ketten sexueller Fremdbestimmung und traditioneller Mutterschaft waren gesprengt. Alles schien möglich. Erst eine Weile später erkannten wir […], dass es lediglich der Teufel des Entscheidungszwangs war, der uns als Engel erschienen war. Zum ersten Mal in der Geschichte konnte man in aller Freiheit fragen: Warum Kinder? […] Nächtelang warf man sich das Pro und das Contra an den Kopf. "Wie kannst du es wagen, in diese Welt Kinder zu setzen?" Diese Welt: von ihr […] glaubte man einen Begriff zu haben, es war eine Welt sozialer Ungerechtigkeit, imperialistischer Wirtschaftskriege, drohender Umweltkatastrophen und massiver Übervölkerung. Junge Paare, die arglos in solche Diskussionen hineingingen, kamen mit der Gewissheit wieder heraus, dass allenfalls Adoption legitim sei. […] Zur Adoption allerdings kam es selten, denn inzwischen hatten sich die traditionellen Verhältnisse aufgelöst, und die Paare, die eben noch leidenschaftlich diskutiert hatten, existierten schon nicht mehr. Die neuen, die sich immerfort bildeten, hatten gar keine Zeit, sich der Kinderfrage ernsthaft zu widmen, denn andere Dinge schienen wichtiger, erst mussten die Amis raus aus Vietnam, und danach war man ganz entspannt im Hier und Jetzt. Nach der Phase der Politisierung kam die der Selbstverwirklichung. Zu der schien auch zu gehören, dass man sich gelegentlich in holländische Abtreibungskliniken begab. 1988 bekannte die Mitbegründerin der Grünen Jutta Ditfurth: "Ich bin 36, da finde ich zwei Abtreibungen auf ein lustvolles, knapp zwanzigjähriges Geschlechtsleben relativ wenig." Jahre später, als man spürte, dass Jugend ein vorübergehender Zustand ist, erfüllte man sich, ohne groß darüber zu reden, den lange unterdrückten Kinderwunsch. Oft war das nicht mehr möglich […] und es begann, was heute die Spalten der Zeitungen füllt: die Suche nach Möglichkeiten künstlicher Reproduktion. Der Refrain "Warum Kinder?" […] ist heute vollends aus dem Bereich des Naturwüchsigen in den der Lebensplanung hinübergewechselt. Nur ganz oben und ganz unten, in den Adelshäusern einerseits, in den Unterschichten und unterentwickelten Völkern andererseits, herrscht noch die Laune des Zufalls oder des natürlichen Gesetzes. Hier mag es noch geschehen, dass man sich vermehrt, wie es das Alte Testament erzählt. In den Mittelschichten der avancierten Länder jedoch ist die interessengeleitete Aufspaltung natürlicher und emotionaler Prozesse längst alltäglich.12 Auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Gesellschaft […] waren Liebe und Sexualität, Zeugung und Ehe, Familie und Aufzucht der Kinder ein geheiligter, jedenfalls idealer Zusammenhang. Dass er allzu oft zerbrach, davon handeln die bürgerlichen Trauerspiele. Aber jede Übertretung des Gesetzes war die Bestätigung seiner Gültigkeit.
Heute, auf dem Gipfel einer Freiheit, die uns manchmal vorkommt wie ein Supermarkt mit Sonderangeboten, manchmal wie der Irrgarten in Stanley Kubricks Horrorfilm Shining, ist alles möglich.
Der Markt der Möglichkeiten ist gewaltig, und wenn wir den biopolitischen Zukunftsenthusiasten Glauben schenken, dann ist er unendlich, dann kann ein jeder, sei er schwul oder lesbisch, impotent oder eine Greisin, vorausgesetzt nur, er oder sie habe genügend Geld, jederzeit jedes Kind auf jede Weise kriegen, blond und intelligent, schwarz und stark oder umgekehrt oder alles zugleich. Wir sollten ihnen nicht glauben. Und doch: Kürzlich hat eine 62 Jahre alte Französin ein Kind zur Welt gebracht, aus Erbschaftsgründen. Es hat schon schlechtere Gründe gegeben, aber nie so alte Mütter.13 Die neue Entwicklung beweist beides: sowohl die Entbehrlichkeit des Mannes wie seine Macht. Er wird nicht mehr gebraucht, Samen gibt es überall. Eileiter müsste man haben! Aber eine Frau ist kein Eileiter, auch sie wird entbehrlich.14 Die Reproduktionsfantasien, zum Teil schon realisiert, sind Männerfantasien des höchsten Stadiums. Endlich sexuelle Lust ohne die Folgen! Und endlich die [...] Gestaltbarkeit der Folgen ohne die lästige sexuelle Lust! Von Liebe ist schon längst keine Rede mehr."15 Der Witz oder eher die Tragödie der Geschichte besteht aber darin, dass diejenigen, die diesen Verlust heute beklagen, just die sind, die durch den eben beschriebenen Selbsterfahrungsprozess konkret zu verantworten haben, dass Ihre Generation, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, zahlenmäßig zu klein sein dürfte, die Versorgung der Alten bewältigen zu können. Die Generation der Älteren hat auch zu verantworten, dass sich die Einstellung zum Leben so verändert hat, dass auch die jetzige Generation kaum mehr Kinder haben wird, dass wir uns vielmehr im Namen der sexuellen Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts 130.000 Abtreibungen pro Jahr erlauben und damit auch noch die Krankenkassen belasten, während schon laut diskutiert wird, über 70–jährige nicht mehr zu therapieren, sondern nur noch ihre Schmerzen zu lindern. Doch während die Generation, die das zu verantworten hat, im Alter selbst noch ganz gut über die Runden kommen dürfte, wird es für Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, im Alter eher schwierig werden. Vielleicht wird Ihnen aber an diesem Beispiel deutlich, wo Ihre Verantwortung für die Zukunft Ihrer und der nächsten Generation liegt: Sie dürfen gesellschaftliche Entwicklungen nicht einfach ignorieren, sondern müssen sie bewusst zur Kenntnis nehmen, sie nüchtern und wachsam analysieren und sie mit Blick auf das Gemeinwohl gestalten wollen. Kurz: Sie müssen wieder nach der Wahrheit zu fragen lernen und müssen politisch werden! Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, leicht ließen sich weitere Beispiele egoistischer Tendenzen in unserer Gesellschaft aufzählen, auch dort, wo es scheinbar um das Du geht. So höre ich bei der Diskussion um den freien Samstag seit Jahren keine pädagogischen Argumente16 und erst recht ist bei der aktuellen massiven Propaganda für die Ganztagsschule zu fragen, ob es den Befürwortern wirklich um das Wohl der Kinder geht. Ich persönlich bin sofort misstrauisch, wenn ich sehe, dass allein mit dem Begriff "Ganztagsschule" bewusst falsche Vorstellungen geweckt werden. Es geht doch wirklich nicht darum, dass Kinder auch nachmittags beschult werden – woher sollten auch die Lehrer dafür kommen und wie sollten sie bezahlt werden, wenn es oft schon für den Vormittag nicht reicht? Es geht nicht um Ganztagsbeschulung, sondern nur um Nachmittagsbetreuung. Noch fragwürdiger wird die Sache, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Betreuung schlechter wird als die bisherige Betreuung in Horten. Dort kommen (noch) 2 Betreuer auf 20 Kinder; an der Ganztags"schule" kommt auf 40 Kinder nur noch 1 Betreuer!17 Wer da verkündet, "es werde "Raum für individuelle Förderung [geboten], in dem Leistungsschwächere gezielt unterstützt, besonders Begabte ergänzend gefördert werden" – so die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag –, ist entweder grenzenlos dumm oder er täuscht die Menschen bewusst – beides ist gleich schlimm für die Kinder.18 Und wenn dann noch als "willkommener Nebeneffekt" genannt wird, "sogar die Wirtschaft [sehe] in Ganztagsschulen einen Standortvorteil, um nicht auf ungewisse Zeit besonders qualifizierte Arbeitskräfte zu verlieren", dann spätestens weiß man, dass es nicht um das Du, um das Wohl der Kinder geht, sondern um die Interessen von Erwachsenen. Kinder brauchen nicht kommunale Betreuung19, Kinder brauchen elterliche Liebe20 – je jünger, desto mehr!21 Aber auch das wollen viele Politiker nicht zur Kenntnis nehmen; sie fordern "Betreuung von der Geburt an" – so Jürgen Trittin - und fordern wie Olaf Scholz "die Lufthoheit über den Kinderbetten" – eine schreckliche Formulierung. Und auch von diesem Beispiel her appelliere ich an Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten: seien Sie immer nüchtern und wachsam; fragen Sie weniger nach dem kurzfristigen Nutzen für wenige, sondern mehr nach den langfristigen Folgen für alle und nehmen Sie Einfluss darauf – entsprechend dem Wort von Bundespräsident Rau. "Wer nicht handelt, wird behandelt." Wenn wir nun noch einen kurzen Blick auf die 3. Person Singular werfen und fragen, ob Gott in unserer Gesellschaft wirklich erst an 3. Stelle kommt, so kann man feststellen, dass die Sache noch schlechter aussieht, dass die Frage nach Gott und der Bedeutung der Kirchen und der Religion überhaupt gesellschaftlich immer weniger relevant ist. Das können wir jeden Sonntag in unseren Kirchen feststellen, das erleben wir in unserem persönlichen Umfeld, das sehen wir deutlich in den Medien und in der Politik. Darüber kann auch der Kirchentag in Berlin nicht hinwegtäuschen, zu dem beispielsweise der frühere Bundesfinanz- und Verteidigungsminister Hans Apel (SPD) als evangelischer Christ anmerkt: "Das war eine Veranstaltung, die mit Jesus Christus und dem Heiligen Geist nur wenig zu tun hat. Wenn dort unter anderem der Dalai Lama redet und Kanzler Schröder, der mit der Kirche nichts am Hut hat, dann mögen dort viele Fromme sein, aber der Tenor hat mit dem, was ich für Christentum halte, wenig zu tun."22 Geht man auf die europäische Ebene, so muss man wohl zur Kenntnis nehmen, dass in der Präambel der künftigen EU-Verfassung nicht nur der Bezug auf Gott fehlen wird, sondern dass nicht einmal auf die Bedeutung des Christentums für Europa hingewiesen wird, was nicht nur den Außenminister des Vatikan zu einer scharfen Stellungnahme veranlasst hat23, sondern auch den polnischen "Staatspräsident Kwasniewski, ein Postkommunist, der sich selbst als Atheist und Agnostiker bezeichnet. [Er] beklagte in einem Zeitungsinterview den ‚gottlosen' Ton des Präambel-Entwurfes. Es sei eine Schande, dass dort die Lieblingsideologien der Linken ihren Niederschlag fänden, jeder Hinweis auf das christliche Erbe Europas dagegen vermieden werde. Es gebe keinerlei Entschuldigung dafür, dass auf Griechenland, das alte Rom und die Aufklärung verwiesen werde, nicht aber auf die christlichen Werte, die für die Entwicklung Europas so entscheidend seien. Es sei unmöglich, ‚über die Vergangenheit und Identität Europas ohne Bezug auf das Christentum zu sprechen'."24 Noch aus einem anderen Grund "ist aber die Verdrängung Gottes aus dem Rechtstext – und aus dem rechtsphilosophischen Denken – ein wirkliches Alarmsignal. Wohin treibt eine Gesellschaft, die keine höhere Instanz als sich selber kennt? Woran orientiert sich eine staatliche Gemeinschaft, die das Volk beziehungsweise seine Mehrheit für die letzte und tiefste Quelle aller Macht hält? [...] Wenn die Mehrheiten letzte Rechtfertigung der Macht sind, kann es für Minderheiten aller Art ungemütlich werden. Das Zwanzigste Jahrhundert hat erschreckende Beispiele dafür geliefert."25 Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, angesichts dieser Analyse der gesellschaftlichen Situation kommt es mir fast so vor, als lebten wir "in einem kleinen gallischen Dorf" und als tickten hier im St. Ursula-Gymnasium die Uhren noch ein wenig anders. Bei uns kommt Gott nicht erst an 3. Stelle, sondern der Glaube an ihn ist - trotz mancher menschlichen Unzulänglichkeiten - die eigentliche Grundlage unseres Tuns. Wir beginnen jeden Tag mit einem gemeinsamen Gebet, wir feiern in jeder Woche eine Schulmesse und in jedem Halbjahr eine Schulgemeindemesse. Zu Beginn der Klasse 5 und am Ende der Jahrgangsstufe 13 feiern wir miteinander Gottesdienst und dazwischen bemühen wir uns immer wieder gemeinsam darum, unser Leben und Arbeiten aus dem Glauben an Gott und im Geist christlicher Nächstenliebe zu gestalten. Damit wird – im Sinne von Kardinal Meisner – die Konjugation des Christentums praktiziert: vom Glauben an IHN zum DU. Doch kann man dadurch die Welt verändern? Ich glaube, ja! Wenigstens ansatzweise. Nach dem letzten Adventkonzert habe ich die Botschaft des Johannesevangeliums zitiert "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt"26. Das klingt sehr nüchtern. Und doch: kann es eine bessere Frohbotschaft geben? Unser Gott ist ein Gott des Wortes, des Dialogs, der Beziehung; sein Wort schafft alles Leben27, sein Wort wird in Jesus von Nazareth sogar selbst lebendig und bringt uns Menschen Heil. "Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit"28. Im Gegensatz dazu machen wir im Alltag viel zu oft die Erfahrung, dass Worte eben nicht immer voll Gnade und Wahrheit sind, dass sie sich als nicht tragfähig erweisen, dass sie unbedacht gewählt werden und sogar Unheil stiften können. Nicht nur in den letzten Wochen und Monaten können wir auch in unserer Schule Beispiele dafür finden. Wir sollten aber nicht nur auf andere zeigen, sondern offen bekennen, dass auch wir selbst häufig ein gutes Wort nicht sagen und mit Worten sündigen. Zum Glück machen wir aber auch die Erfahrung, dass es Worte der Vergebung gibt, die die Wirklichkeit positiv verändern können, und wir sollten gerade als Christen immer wieder zu solchen Worten der Vergebung bereit sein - im Wissen darum, dass auch uns von Gott immer wieder die Gnade des vergebenden Wortes geschenkt wird. Zum Glück machen wir also die Erfahrung, dass wir die Welt im Sinne Gottes positiv verändern können, wenn wir zu anderen Menschen ja sagen. Und persönlich bin ich davon überzeugt, dass das Klima an unserem Gymnasium deshalb überwiegend positiv ist, weil wir eine Gemeinschaft von Menschen sind, die zu Gott und zu einander ja sagen und dafür bin ich sehr dankbar. So bin ich dankbar dafür, dass Sie, liebe Eltern, ja zu Ihren Kindern sagen und sich für die Schule Ihrer Kinder nicht nur interessiert, sondern sich am Schulleben aktiv beteiligt haben. Vieles wäre ohne Sie nicht möglich gewesen und dafür könnte ich zahllose Beispiele und Namen nennen. Ich bin Ihnen auch dankbar dafür, dass Sie ja zu den Lehrern sagen, dass sie ihre Einsatzbereitschaft sehen und dass sie das auch öffentlich sagen. Ich bin dankbar dafür, dass auch Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ja zu unserer Schule gesagt haben, dass Sie sich mit ihr identifiziert und sich für sie einsetzt haben – in Chor und Orchester, bei Theateraufführungen, Schulfesten, Sportveranstaltungen oder im Rahmen der SV, um nur einige wenige Beispiele zu nennen – und dass Sie auch zu uns Lehrern und zu einander ja gesagt haben. Noch nie waren so viele Abiturientinnen und Abiturienten am Tag der Prüfungen im 1. – 3. Fach in der Schule und haben Mut gemacht, Freude geteilt und Enttäuschte getröstet. Ich bin dankbar dafür, dass Sie, liebes Kollegium, als Lehrerinnen und Lehrer ja zu unseren Schülern sagen, dass Sie sich für sie einsetzen und dass sie Ihnen als Menschen wichtig sind und dass Sie auch immer um eine harmonische Zusammenarbeit mit den Eltern bemüht sind – eine Erziehungspartnerschaft zum Wohl der Schülerinnen und Schüler. Ich bin dankbar dafür, dass es auch außerhalb der Schule Firmen, Sparkassen und weitere Institutionen gibt, die ja zu uns sagen, nicht zuletzt auch die Stadt Brühl und unser Erzbischof, dem wir nach wie vor lieb und teuer sind. Solche positiven Erfahrungen schaffen ein Klima, das wir auch heute spüren – im Gottesdienst, hier und sicher auch heute Abend - , das aber Gott sei Dank täglich die Grundlage unserer Zusammenarbeit ist und das wir auch in Zukunft pflegen sollten. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Festversammlung, eine gute Atmosphäre in einer Schule ist ein Segen, ein Segen für die Lehrer, ein Segen für die Eltern und vor allem ein Segen für die Schülerinnen und Schüler. Doch wie schon Friedrich Schiller wusste, kommt der Segen von oben. Segen ist die Zusage Gottes für eine gelingende Zukunft. Diese Zusage wird uns am Ende eines jeden Gottesdienstes zuteil und auch die Kreuze in jedem Unterrichtsraum verkünden die Frohbotschaft, dass Gott uns Menschen trotz des Leids in der Welt das Heil29 zugesagt hat. Die Kreuze verweisen aber auch darauf, dass wir die Heilszusage Gottes weitergeben sollen, dass auch wir für einander ein Segen sein sollen. Kinder sind immer ein Segen für die Schule; Eltern können ein Segen für die Schule sein und Pädagogen können ein Segen für die Schule sein, und wir werden es bleiben, wenn wir weiterhin aus denselben gemeinsamen Wurzeln leben und handeln. Daraus ergibt sich auch der Wunsch für Ihre Zukunft, liebe Abiturientinnen und Abiturienten: Nicht, dass es Ihnen materiell gut gegen möge – das selbstverständlich auch. Nein, ich möchte Ihnen das Motto des Berliner Kirchentags mit auf den Weg geben: "Ihr sollt ein Segen sein." Dazu begleite Sie der Segen Gottes auf Ihrem Weg in die Zukunft, er schenke Ihnen Vertrauen und Zuversicht und gebe Ihnen die Bereitschaft und die Kraft, für andere ein Segen zu sein.
1 Die Bundesbank z.B. stellt fest, dass die aktuelle "hartnäckige Wirtschaftsflaute" auch "tief greifende gesellschaftspolitische Ursachen hat, wofür die niedrige Geburtenrate und überzogenes Anspruchsdenken als symptomatisch gelten mögen." Zitiert nach Clemens Christmann, in: Die Tagespost vom 15.03.03
zurück |