Verabschiedung der Abiturientia 2003
des Erzbischöflichen St. Ursula-Gymnasiums in Brühl
am 28. Juni 2003

Ansprache von OStD i.K. Werner Otte




Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

im Gegensatz zu unserer Fußballnationalmannschaft, die die Qualifikation für die Europameisterschaft noch nicht geschafft hat, halten Sie gleich Schwarz auf Weiß in Händen, dass Sie alle Hürden der Qualifikationsphase genommen und z.T. ganz beachtliche Ergebnisse erzielt haben. Dazu gratuliere ich Ihnen – auch im Namen unseres Lehrerkollegiums – ganz herzlich und nutze die letzte Gelegenheit, Ihnen mit den Glückwünschen für eine gute Zukunft ein paar Gedanken mit auf den Weg geben.

Ausgehen möchte ich von Kardinal Meisner, der am 5. Februar diesen Jahres in der Schulmesse unserer Klassen 6-8 anlässlich der Firmung von 3 Schülern darauf hingewiesen hat, dass man beim Konjugieren von Verben immer mit der 1. Person Singular beginnt: erst kommt das Ich, dann erst das Du und an 3. Stelle Er, Sie, Es. In unserer Gesellschaft, im Leben der Menschen sei das nicht anders: erst kommt das Ich, dann erst das Du und erst an 3. Stelle das Er, nämlich Gott. Dagegen stellte er die Konjugation des Christentums: erst kommt Er, Gott, unser Schöpfer und Vater; dann kommt das Du und danach erst das Ich. Und er behauptete, dass die christliche Konjugation die Welt verändern könne.

Wenn man diesen Gedanken aufgreift, so meint man schon die ersten Kritiker zu hören: das sei typisch für die Amtskirche: sie habe eine negative Einstellung zur Welt und zu den Menschen und mache alles schlecht. Dagegen ließe sich manches einwenden; doch ist das allein deshalb nicht notwendig, weil mittlerweile ähnlich kritische Bemerkungen auch aus anderen Richtungen kommen, von denen man es nicht unbedingt erwarten würde.1

So hat erst vor kurzem der Arzt und Psychiater Klaus Dörner in einem Interview der ZEIT formuliert: "Meine Generation ist die egoistischste, die es je gegeben hat." Und er fährt fort: "Sie hat sich hohe Renten zugebilligt auf Kosten der früheren und nachfolgenden Generation."2

Folgerichtig nimmt die Rentenproblematik einen Großteil der aktuellen politischen Diskussion in Anspruch; denn nun wird langsam auch dem Letzten klar, den Alten wie den Jungen, dass die Verantwortlichen fahrlässig von einem stetigen Wachsen der Wirtschaft ausgegangen sind, dass die Verantwortlichen im Bereich der Beamtenpensionen fahrlässig keine Rücklagen gebildet haben und dass die meisten der mittleren Generation - bereitwillig und ach so aufgeklärt - die Frage verdrängt haben, wie immer weniger junge Menschen immer mehr alte Menschen versorgen sollen – und das nicht nur materiell in Form von Renten, sondern auch ideell in Form von Betreuung.3

Dabei hat man vom Statistischen Bundesamt sicher nicht erst heute erfahren, dass die Alterspyramide unseres Volkes selbst bei 200.000 Zuwanderern pro Jahr in 50 Jahren total auf dem Kopf stehen wird.4 Aber offensichtlich hat es die Politik und haben es die Presse und wir alle nicht wahrhaben wollen: mit stark rückläufigen Geburtenzahlen sägen wir den Ast ab, auf dem wir selbst sitzen.

Dies deutlich zu sagen, wagt die Politik aber immer noch nicht; denn man sagt Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, nicht: es werden für Ihre Zukunft zu wenige Kinder geboren und darum müssen wir Familien mit Kindern vorrangig fördern5, sondern man spricht verschleiernd vom "demographischen Faktor" bzw. neuerdings - noch verschleiernder - vom "Nachhaltigkeitsfaktor".6

Die Politik sagt nicht die Wahrheit, weil dann die 68-er, die nach dem strategisch geplanten Marsch durch die Institutionen heute im Zentrum der Macht stehen, ihre Fehler eingestehen und zu Positionen aufrufen müssten, die sie früher verteufelt haben.7 Sie müssten zugeben, dass der Aufruf zur sogenannten sexuellen Befreiung und zur Selbstverwirklichung ein Aufruf zum Egoismus war und ist und dass der Egoismus in aller Regel dazu führt, das Paradies zu verlieren.

Bibellesern ist dieser Zusammenhang schon aus dem 1. Buch des Alten Testaments vertraut; sie wissen vom Baum der Erkenntnis und vom Turmbau zu Babel: Wer sein will wie der absolute Gott und daher die absolute Autonomie des Menschen predigt, verliert das Paradies.8 Die Strafe ist Folge der Tat: ein Volk, das sich nicht mehr reproduzieren will, gibt seine Zukunft auf und stirbt9. Sterben ist aber u.U. ein langwieriger und schmerzhafter Prozess!

Auf diese Zusammenhänge hat die Kirche immer wieder hingewiesen. Aber wer wollte und will schon auf sie hören – gestern wie heute?

War es nicht Papst Paul VI.10, der schon 1968 in seinem Lehrschreiben "Humanae vitae" gegen die herrschende Meinung weitsichtig vor der Trennung von Sexualität und Zeugung durch die Pille gewarnt hat und dafür mit Kritik geradezu bombardiert und als "Pillen-Papst" diskriminiert wurde?

Wer hätte sich damals vorstellen können, dass 35 Jahre später nicht etwa in der Kirchenzeitung, sondern in der ZEIT, die nicht gerade das Hausblatt der Konservativen ist, ein Artikel erscheinen würde, in dem unter der Überschrift "Warum Kinder?" der Verlust der Liebe beklagt wird? Ich will ihn zitieren, um Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, am Beispiel der Generation Ihrer Eltern zu zeigen, wie damals die Frage nach dem, was für die Menschen objektiv gut ist, von subjektiven Meinungen verdrängt worden ist11 und wie sich Meinungen im Verlauf eines Menschenlebens ändern können, die Folgen falscher Meinungen aber nicht kurzfristig zu ändern sind, sondern die Fehler der Elterngeneration von der nachfolgenden Generation ausgebadet werden müssen:

"Die Frage […]: Will ich ein Kind?, und die neueste Frage: Welches Kind will ich?, ist revolutionär. Nie zuvor hat sich eine Frau derlei fragen dürfen oder müssen. Nie zuvor hatten Paare die Wahl. Das Kind kam oder es kam nicht. […]

Als die Pille Anfang der sechziger Jahre auf den Markt kam und jede Frau sie ziemlich leicht kriegen konnte, erschien der Engel der Freiheit. Die Ketten sexueller Fremdbestimmung und traditioneller Mutterschaft waren gesprengt. Alles schien möglich. Erst eine Weile später erkannten wir […], dass es lediglich der Teufel des Entscheidungszwangs war, der uns als Engel erschienen war. Zum ersten Mal in der Geschichte konnte man in aller Freiheit fragen: Warum Kinder? […]

Nächtelang warf man sich das Pro und das Contra an den Kopf. "Wie kannst du es wagen, in diese Welt Kinder zu setzen?" Diese Welt: von ihr […] glaubte man einen Begriff zu haben, es war eine Welt sozialer Ungerechtigkeit, imperialistischer Wirtschaftskriege, drohender Umweltkatastrophen und massiver Übervölkerung. Junge Paare, die arglos in solche Diskussionen hineingingen, kamen mit der Gewissheit wieder heraus, dass allenfalls Adoption legitim sei. […]

Zur Adoption allerdings kam es selten, denn inzwischen hatten sich die traditionellen Verhältnisse aufgelöst, und die Paare, die eben noch leidenschaftlich diskutiert hatten, existierten schon nicht mehr. Die neuen, die sich immerfort bildeten, hatten gar keine Zeit, sich der Kinderfrage ernsthaft zu widmen, denn andere Dinge schienen wichtiger, erst mussten die Amis raus aus Vietnam, und danach war man ganz entspannt im Hier und Jetzt. Nach der Phase der Politisierung kam die der Selbstverwirklichung. Zu der schien auch zu gehören, dass man sich gelegentlich in holländische Abtreibungskliniken begab. 1988 bekannte die Mitbegründerin der Grünen Jutta Ditfurth: "Ich bin 36, da finde ich zwei Abtreibungen auf ein lustvolles, knapp zwanzigjähriges Geschlechtsleben relativ wenig."

Jahre später, als man spürte, dass Jugend ein vorübergehender Zustand ist, erfüllte man sich, ohne groß darüber zu reden, den lange unterdrückten Kinderwunsch. Oft war das nicht mehr möglich […] und es begann, was heute die Spalten der Zeitungen füllt: die Suche nach Möglichkeiten künstlicher Reproduktion.

Der Refrain "Warum Kinder?" […] ist heute vollends aus dem Bereich des Naturwüchsigen in den der Lebensplanung hinübergewechselt. Nur ganz oben und ganz unten, in den Adelshäusern einerseits, in den Unterschichten und unterentwickelten Völkern andererseits, herrscht noch die Laune des Zufalls oder des natürlichen Gesetzes. Hier mag es noch geschehen, dass man sich vermehrt, wie es das Alte Testament erzählt. In den Mittelschichten der avancierten Länder jedoch ist die interessengeleitete Aufspaltung natürlicher und emotionaler Prozesse längst alltäglich.12

Auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Gesellschaft […] waren Liebe und Sexualität, Zeugung und Ehe, Familie und Aufzucht der Kinder ein geheiligter, jedenfalls idealer Zusammenhang. Dass er allzu oft zerbrach, davon handeln die bürgerlichen Trauerspiele. Aber jede Übertretung des Gesetzes war die Bestätigung seiner Gültigkeit.

Heute, auf dem Gipfel einer Freiheit, die uns manchmal vorkommt wie ein Supermarkt mit Sonderangeboten, manchmal wie der Irrgarten in Stanley Kubricks Horrorfilm Shining, ist alles möglich.
Man kann miteinander schlafen, ohne sich zu lieben […].
Man kann sich lieben, ohne miteinander zu schlafen […].
Man kann miteinander verheiratet sein, ohne miteinander zu schlafen […].
Man kann miteinander schlafen, ohne verheiratet zu sein […].
Man kann miteinander schlafen, ohne Kinder zu zeugen[…].
Man kann Kinder zeugen, ohne miteinander zu schlafen […].

Der Markt der Möglichkeiten ist gewaltig, und wenn wir den biopolitischen Zukunftsenthusiasten Glauben schenken, dann ist er unendlich, dann kann ein jeder, sei er schwul oder lesbisch, impotent oder eine Greisin, vorausgesetzt nur, er oder sie habe genügend Geld, jederzeit jedes Kind auf jede Weise kriegen, blond und intelligent, schwarz und stark oder umgekehrt oder alles zugleich. Wir sollten ihnen nicht glauben. Und doch: Kürzlich hat eine 62 Jahre alte Französin ein Kind zur Welt gebracht, aus Erbschaftsgründen. Es hat schon schlechtere Gründe gegeben, aber nie so alte Mütter.13

Die neue Entwicklung beweist beides: sowohl die Entbehrlichkeit des Mannes wie seine Macht. Er wird nicht mehr gebraucht, Samen gibt es überall. Eileiter müsste man haben! Aber eine Frau ist kein Eileiter, auch sie wird entbehrlich.14 Die Reproduktionsfantasien, zum Teil schon realisiert, sind Männerfantasien des höchsten Stadiums. Endlich sexuelle Lust ohne die Folgen! Und endlich die [...] Gestaltbarkeit der Folgen ohne die lästige sexuelle Lust! Von Liebe ist schon längst keine Rede mehr."15

Der Witz oder eher die Tragödie der Geschichte besteht aber darin, dass diejenigen, die diesen Verlust heute beklagen, just die sind, die durch den eben beschriebenen Selbsterfahrungsprozess konkret zu verantworten haben, dass Ihre Generation, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, zahlenmäßig zu klein sein dürfte, die Versorgung der Alten bewältigen zu können. Die Generation der Älteren hat auch zu verantworten, dass sich die Einstellung zum Leben so verändert hat, dass auch die jetzige Generation kaum mehr Kinder haben wird, dass wir uns vielmehr im Namen der sexuellen Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts 130.000 Abtreibungen pro Jahr erlauben und damit auch noch die Krankenkassen belasten, während schon laut diskutiert wird, über 70–jährige nicht mehr zu therapieren, sondern nur noch ihre Schmerzen zu lindern. Doch während die Generation, die das zu verantworten hat, im Alter selbst noch ganz gut über die Runden kommen dürfte, wird es für Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, im Alter eher schwierig werden.

Vielleicht wird Ihnen aber an diesem Beispiel deutlich, wo Ihre Verantwortung für die Zukunft Ihrer und der nächsten Generation liegt: Sie dürfen gesellschaftliche Entwicklungen nicht einfach ignorieren, sondern müssen sie bewusst zur Kenntnis nehmen, sie nüchtern und wachsam analysieren und sie mit Blick auf das Gemeinwohl gestalten wollen. Kurz: Sie müssen wieder nach der Wahrheit zu fragen lernen und müssen politisch werden!

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, leicht ließen sich weitere Beispiele egoistischer Tendenzen in unserer Gesellschaft aufzählen, auch dort, wo es scheinbar um das Du geht. So höre ich bei der Diskussion um den freien Samstag seit Jahren keine pädagogischen Argumente16 und erst recht ist bei der aktuellen massiven Propaganda für die Ganztagsschule zu fragen, ob es den Befürwortern wirklich um das Wohl der Kinder geht. Ich persönlich bin sofort misstrauisch, wenn ich sehe, dass allein mit dem Begriff "Ganztagsschule" bewusst falsche Vorstellungen geweckt werden. Es geht doch wirklich nicht darum, dass Kinder auch nachmittags beschult werden – woher sollten auch die Lehrer dafür kommen und wie sollten sie bezahlt werden, wenn es oft schon für den Vormittag nicht reicht? Es geht nicht um Ganztagsbeschulung, sondern nur um Nachmittagsbetreuung.

Noch fragwürdiger wird die Sache, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Betreuung schlechter wird als die bisherige Betreuung in Horten. Dort kommen (noch) 2 Betreuer auf 20 Kinder; an der Ganztags"schule" kommt auf 40 Kinder nur noch 1 Betreuer!17 Wer da verkündet, "es werde "Raum für individuelle Förderung [geboten], in dem Leistungsschwächere gezielt unterstützt, besonders Begabte ergänzend gefördert werden" – so die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag –, ist entweder grenzenlos dumm oder er täuscht die Menschen bewusst – beides ist gleich schlimm für die Kinder.18 Und wenn dann noch als "willkommener Nebeneffekt" genannt wird, "sogar die Wirtschaft [sehe] in Ganztagsschulen einen Standortvorteil, um nicht auf ungewisse Zeit besonders qualifizierte Arbeitskräfte zu verlieren", dann spätestens weiß man, dass es nicht um das Du, um das Wohl der Kinder geht, sondern um die Interessen von Erwachsenen. Kinder brauchen nicht kommunale Betreuung19, Kinder brauchen elterliche Liebe20 – je jünger, desto mehr!21 Aber auch das wollen viele Politiker nicht zur Kenntnis nehmen; sie fordern "Betreuung von der Geburt an" – so Jürgen Trittin - und fordern wie Olaf Scholz "die Lufthoheit über den Kinderbetten" – eine schreckliche Formulierung.

Und auch von diesem Beispiel her appelliere ich an Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten: seien Sie immer nüchtern und wachsam; fragen Sie weniger nach dem kurzfristigen Nutzen für wenige, sondern mehr nach den langfristigen Folgen für alle und nehmen Sie Einfluss darauf – entsprechend dem Wort von Bundespräsident Rau. "Wer nicht handelt, wird behandelt."

Wenn wir nun noch einen kurzen Blick auf die 3. Person Singular werfen und fragen, ob Gott in unserer Gesellschaft wirklich erst an 3. Stelle kommt, so kann man feststellen, dass die Sache noch schlechter aussieht, dass die Frage nach Gott und der Bedeutung der Kirchen und der Religion überhaupt gesellschaftlich immer weniger relevant ist. Das können wir jeden Sonntag in unseren Kirchen feststellen, das erleben wir in unserem persönlichen Umfeld, das sehen wir deutlich in den Medien und in der Politik. Darüber kann auch der Kirchentag in Berlin nicht hinwegtäuschen, zu dem beispielsweise der frühere Bundesfinanz- und Verteidigungsminister Hans Apel (SPD) als evangelischer Christ anmerkt: "Das war eine Veranstaltung, die mit Jesus Christus und dem Heiligen Geist nur wenig zu tun hat. Wenn dort unter anderem der Dalai Lama redet und Kanzler Schröder, der mit der Kirche nichts am Hut hat, dann mögen dort viele Fromme sein, aber der Tenor hat mit dem, was ich für Christentum halte, wenig zu tun."22

Geht man auf die europäische Ebene, so muss man wohl zur Kenntnis nehmen, dass in der Präambel der künftigen EU-Verfassung nicht nur der Bezug auf Gott fehlen wird, sondern dass nicht einmal auf die Bedeutung des Christentums für Europa hingewiesen wird, was nicht nur den Außenminister des Vatikan zu einer scharfen Stellungnahme veranlasst hat23, sondern auch den polnischen "Staatspräsident Kwasniewski, ein Postkommunist, der sich selbst als Atheist und Agnostiker bezeichnet. [Er] beklagte in einem Zeitungsinterview den ‚gottlosen' Ton des Präambel-Entwurfes. Es sei eine Schande, dass dort die Lieblingsideologien der Linken ihren Niederschlag fänden, jeder Hinweis auf das christliche Erbe Europas dagegen vermieden werde. Es gebe keinerlei Entschuldigung dafür, dass auf Griechenland, das alte Rom und die Aufklärung verwiesen werde, nicht aber auf die christlichen Werte, die für die Entwicklung Europas so entscheidend seien. Es sei unmöglich, ‚über die Vergangenheit und Identität Europas ohne Bezug auf das Christentum zu sprechen'."24

Noch aus einem anderen Grund "ist aber die Verdrängung Gottes aus dem Rechtstext – und aus dem rechtsphilosophischen Denken – ein wirkliches Alarmsignal. Wohin treibt eine Gesellschaft, die keine höhere Instanz als sich selber kennt? Woran orientiert sich eine staatliche Gemeinschaft, die das Volk beziehungsweise seine Mehrheit für die letzte und tiefste Quelle aller Macht hält? [...] Wenn die Mehrheiten letzte Rechtfertigung der Macht sind, kann es für Minderheiten aller Art ungemütlich werden. Das Zwanzigste Jahrhundert hat erschreckende Beispiele dafür geliefert."25

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, angesichts dieser Analyse der gesellschaftlichen Situation kommt es mir fast so vor, als lebten wir "in einem kleinen gallischen Dorf" und als tickten hier im St. Ursula-Gymnasium die Uhren noch ein wenig anders.

Bei uns kommt Gott nicht erst an 3. Stelle, sondern der Glaube an ihn ist - trotz mancher menschlichen Unzulänglichkeiten - die eigentliche Grundlage unseres Tuns. Wir beginnen jeden Tag mit einem gemeinsamen Gebet, wir feiern in jeder Woche eine Schulmesse und in jedem Halbjahr eine Schulgemeindemesse. Zu Beginn der Klasse 5 und am Ende der Jahrgangsstufe 13 feiern wir miteinander Gottesdienst und dazwischen bemühen wir uns immer wieder gemeinsam darum, unser Leben und Arbeiten aus dem Glauben an Gott und im Geist christlicher Nächstenliebe zu gestalten. Damit wird – im Sinne von Kardinal Meisner – die Konjugation des Christentums praktiziert: vom Glauben an IHN zum DU. Doch kann man dadurch die Welt verändern? Ich glaube, ja! Wenigstens ansatzweise.

Nach dem letzten Adventkonzert habe ich die Botschaft des Johannesevangeliums zitiert "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt"26. Das klingt sehr nüchtern. Und doch: kann es eine bessere Frohbotschaft geben? Unser Gott ist ein Gott des Wortes, des Dialogs, der Beziehung; sein Wort schafft alles Leben27, sein Wort wird in Jesus von Nazareth sogar selbst lebendig und bringt uns Menschen Heil. "Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit"28.

Im Gegensatz dazu machen wir im Alltag viel zu oft die Erfahrung, dass Worte eben nicht immer voll Gnade und Wahrheit sind, dass sie sich als nicht tragfähig erweisen, dass sie unbedacht gewählt werden und sogar Unheil stiften können. Nicht nur in den letzten Wochen und Monaten können wir auch in unserer Schule Beispiele dafür finden. Wir sollten aber nicht nur auf andere zeigen, sondern offen bekennen, dass auch wir selbst häufig ein gutes Wort nicht sagen und mit Worten sündigen.

Zum Glück machen wir aber auch die Erfahrung, dass es Worte der Vergebung gibt, die die Wirklichkeit positiv verändern können, und wir sollten gerade als Christen immer wieder zu solchen Worten der Vergebung bereit sein - im Wissen darum, dass auch uns von Gott immer wieder die Gnade des vergebenden Wortes geschenkt wird.

Zum Glück machen wir also die Erfahrung, dass wir die Welt im Sinne Gottes positiv verändern können, wenn wir zu anderen Menschen ja sagen. Und persönlich bin ich davon überzeugt, dass das Klima an unserem Gymnasium deshalb überwiegend positiv ist, weil wir eine Gemeinschaft von Menschen sind, die zu Gott und zu einander ja sagen und dafür bin ich sehr dankbar.

So bin ich dankbar dafür, dass Sie, liebe Eltern, ja zu Ihren Kindern sagen und sich für die Schule Ihrer Kinder nicht nur interessiert, sondern sich am Schulleben aktiv beteiligt haben. Vieles wäre ohne Sie nicht möglich gewesen und dafür könnte ich zahllose Beispiele und Namen nennen.

Ich bin Ihnen auch dankbar dafür, dass Sie ja zu den Lehrern sagen, dass sie ihre Einsatzbereitschaft sehen und dass sie das auch öffentlich sagen.

Ich bin dankbar dafür, dass auch Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ja zu unserer Schule gesagt haben, dass Sie sich mit ihr identifiziert und sich für sie einsetzt haben – in Chor und Orchester, bei Theateraufführungen, Schulfesten, Sportveranstaltungen oder im Rahmen der SV, um nur einige wenige Beispiele zu nennen – und dass Sie auch zu uns Lehrern und zu einander ja gesagt haben. Noch nie waren so viele Abiturientinnen und Abiturienten am Tag der Prüfungen im 1. – 3. Fach in der Schule und haben Mut gemacht, Freude geteilt und Enttäuschte getröstet.

Ich bin dankbar dafür, dass Sie, liebes Kollegium, als Lehrerinnen und Lehrer ja zu unseren Schülern sagen, dass Sie sich für sie einsetzen und dass sie Ihnen als Menschen wichtig sind und dass Sie auch immer um eine harmonische Zusammenarbeit mit den Eltern bemüht sind – eine Erziehungspartnerschaft zum Wohl der Schülerinnen und Schüler.

Ich bin dankbar dafür, dass es auch außerhalb der Schule Firmen, Sparkassen und weitere Institutionen gibt, die ja zu uns sagen, nicht zuletzt auch die Stadt Brühl und unser Erzbischof, dem wir nach wie vor lieb und teuer sind.

Solche positiven Erfahrungen schaffen ein Klima, das wir auch heute spüren – im Gottesdienst, hier und sicher auch heute Abend - , das aber Gott sei Dank täglich die Grundlage unserer Zusammenarbeit ist und das wir auch in Zukunft pflegen sollten.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Festversammlung, eine gute Atmosphäre in einer Schule ist ein Segen, ein Segen für die Lehrer, ein Segen für die Eltern und vor allem ein Segen für die Schülerinnen und Schüler. Doch wie schon Friedrich Schiller wusste, kommt der Segen von oben. Segen ist die Zusage Gottes für eine gelingende Zukunft. Diese Zusage wird uns am Ende eines jeden Gottesdienstes zuteil und auch die Kreuze in jedem Unterrichtsraum verkünden die Frohbotschaft, dass Gott uns Menschen trotz des Leids in der Welt das Heil29 zugesagt hat. Die Kreuze verweisen aber auch darauf, dass wir die Heilszusage Gottes weitergeben sollen, dass auch wir für einander ein Segen sein sollen.

Kinder sind immer ein Segen für die Schule; Eltern können ein Segen für die Schule sein und Pädagogen können ein Segen für die Schule sein, und wir werden es bleiben, wenn wir weiterhin aus denselben gemeinsamen Wurzeln leben und handeln.

Daraus ergibt sich auch der Wunsch für Ihre Zukunft, liebe Abiturientinnen und Abiturienten: Nicht, dass es Ihnen materiell gut gegen möge – das selbstverständlich auch. Nein, ich möchte Ihnen das Motto des Berliner Kirchentags mit auf den Weg geben: "Ihr sollt ein Segen sein."

Dazu begleite Sie der Segen Gottes auf Ihrem Weg in die Zukunft, er schenke Ihnen Vertrauen und Zuversicht und gebe Ihnen die Bereitschaft und die Kraft, für andere ein Segen zu sein.




1 Die Bundesbank z.B. stellt fest, dass die aktuelle "hartnäckige Wirtschaftsflaute" auch "tief greifende gesellschaftspolitische Ursachen hat, wofür die niedrige Geburtenrate und überzogenes Anspruchsdenken als symptomatisch gelten mögen." Zitiert nach Clemens Christmann, in: Die Tagespost vom 15.03.03
2 Klaus Dörner, in: DIE ZEIT 11/2003
3 "Man kann verstehen, dass Rainer Münz, Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, seinen Studenten vorhält, sie würden das Problem niedriger Geburtenraten wahrscheinlich erst im Rollstuhl erkennen – wenn niemand mehr da sei, um sie zu schieben." – so Elisabeth Niejahr, Die vergreiste Republik. In: DIE ZEIT 02/2003
4 Kölnische Rundschau vom7.6.03: "2050 steht die Alterspyramide Kopf. Statistiker: In 50 Jahren ist wahrscheinlich jeder dritte Deutsche 60 oder älter. […] Die Hälfte der Bevölkerung wird nach der neuesten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes älter als 48 Jahre sein. Auf hundert Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 59 Jahre kämen dann 78 Rentner." Als Voraussetzungen für diese Berechnungen werden genannt: 1,4 Kinder pro Frau; Erhöhung der Lebenserwartung um 6 Jahre; jährliche Zuwanderung von 200.000 Menschen.
5 Einer der wenigen, der auch hier die Probleme nicht bildhaft umschreibt und die Jugendlichen konkret anspricht, ist Papst Johannes Paul II. Vgl. Kölnische Rundschau vom 10.06.03: "In seiner Pfingstmesse vor 100000 Menschen in Rijeka würdigte [er] die Familien als Grundstein der Gesellschaft. […] Die Regierungen müssten ihrer Aufgabe gerecht werden, den Familien beizustehen und sie in ihrem Lebensunterhalt zu unterstützen. Hilfe für Familien diene auch der Lösung anderer Probleme, sagte der Papst und nannte die Pflege von Kranken und Alten sowie die Eindämmung von Kriminalität und Drogenmissbrauch. Junge Kroaten forderte Johannes Paul auf, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie sollten keine Angst haben vor einer Bindung, die öffentlich anerkannt werde."
6 "Dieselben Leute, die vor fünf Jahren von einem demographischen Faktor in der Rentenformel nichts wissen wollten, sind jetzt genötigt, auf eben dieses Teufelswerk zurückzugreifen. Der Faktor ist das Eingeständnis, dass die Rente nur dann sicher ist, wenn beides zusammenkommt, genügend Arbeit und genügend Kinder. Daraus die Konsequenz zu ziehen und neben einer Arbeitsmarkt- auch eine vorausschauende Bevölkerungspolitik zu betreiben, scheint diese Regierung aber nach wie vor zu überfordern. Schon das Wort gilt als anrüchig, und keine Ausrede ist zu dumm, um sich der banalen Einsicht zu entziehen, dass Nachwuchspflege nicht nur etwas für Sportvereine ist, sondern auch für Staaten. In Deutschland endet die Kindergeldstaffel beim dritten, in Frankreich erst beim sechsten Kind. Die Folgen liegen auf der Hand: statt wie bei uns bei 1,3, liegt die durchschnittliche Kinderzahl in Frankreich bei 1,9: genug, um Renten und Pensionen auch in Zukunft zu garantieren." Konrad Adam, Nach uns die Sintflut, in: DIE WELT vom 26.04.03
7 Zum Teil geschieht das schon. Vgl. Jürgen Liminski, in: Die Tagespost vom 26.5.01: "Da kommt die (vierte) Frau des Kanzlers und erzählt […] etwas über Werte in der Erziehung und zwar ausgerechnet jene Werte, die von den 68-ern, der politischen Generation ihres Mannes, systematisch verfemt worden sind: Zuverlässigkeit, Fleiß, Pflichtbewusstsein, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft. Man fühlt sich verhöhnt. Für wie dumm halten die Schröders das normale Volk?" – Wie verfemt diese "Sekundärtugenden" waren, mag auch der Hinweis belegen, dass Oskar Lafontaine sie für Tugenden erklärt hat, mit denen auch Konzentrationslager geführt werden können. – Auch von der Ideologie der gleichen Begabung aller Kinder ist man längst abgewichen und dieselben Leute propagieren nun die Begabtenförderung!
8 vgl. dazu u.a. G. Rohrmoser, Geistiges Vakuum – Spätfolgen der Kulturrevolution. Plädoyer für die Christliche Vernunft. Bietigheim/Baden 1997, S. 44f.: "Als der wichtigste Wert erscheint uns heute die Selbstbestimmung, die ‚Autonomie' Wir verstehen unter Autonomie den Akt bloßer Selbstverwirklichung, und Selbstverwirklichung wird nur als formale Selbstbestimmung verstanden, ohne Bindung an einen zu verwirklichenden Inhalt. Gehen wir dagegen auf die Wurzel des Autonomiebegriffs in der deutschen Aufklärung bei Kant zurück, so entdecken wir dort einen anderen Begriff von Autonomie. Autonomie meint bei Kant nicht ungehinderte Selbstentfaltung im Sinne formaler Selbstbestimmung, Autonomie impliziert keineswegs Gleichgültigkeit gegen alle Inhalte, sondern bei Kant bedeutet Autonomie Gehorsam gegenüber dem Gesetz der intellegiblen Vernunft und dem Sittengesetz. Aus der Sicht Kants ist es ein durch die Vernunft selbst gegebenes Gesetz, dem der Mensch gehorchen soll."
9"Während des Krieges lag die deutsche Geburtenrate über der Sterberate. Und in der Tat – Deutschland ist ein Land, das vor Kindern strotzt. Überall sieht man Kinder. Es ist ein schrecklicher Gedanke, daß die Deutschen auf lange Sicht den Krieg gewonnen haben können. Seit ich diese vitalen Statistiken gesehen habe, das war im letzten Winter, bin ich davon überzeugt, daß Deutschland in zwanzig Jahren einen weiteren Versuch zur Weltherrschaft machen wird, wenn die neue Generation nicht eine radikale Änderung erfährt." – US-Nachrichtenoffizier Saul Padover, 1945 im Rheinland. Zitiert nach: Wolfgang Tress, Schlachtfeld Rheinland. Das Ende des Krieges zwischen Maas und Rhein. September 1944 – März 1945 in Bilddokumenten. 2. Auflage Aachen 1976, S. 126
10 Paul VI (1897-1978), Papst von 1963 bis 1978
11 "Dagegen weisen heutige Auffassungen von individueller Autonomie selten einen Weg zur Unterscheidung zwischen echten moralischen Entscheidungen und Entschlüssen, die der Verwirklichung von individuellen Neigungen, Präferenzen, Wünschen und Befriedigungen dienen." Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt (Ohne Jahresangabe; aber nach Sept. 2001), S. 177
12 vgl. Kölnische Rundschau vom 21.06.03: "Ein nach Embryo-Auslese geborenes Baby in England hat die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik, die in Deutschland verboten ist, neu angeheizt." (S.1) – "Der kleine Charly benötigt dringend Blutstammzellen, die er nun von Jamie bekommen soll. Um sicherzustellen, dass die Gewebemerkmale der beiden Brüder übereinstimmten, war ein Selektionsverfahren nötig: Nach einer künstlichen Befruchtung wählten Ärzte […] denjenigen Embryo aus, dessen Gewebemerkmale am besten mit [seinem Bruder] übereinstimmten." (S.3)
13 "In Johannesburg brachte 1983 eine Frau als Ammenmutter ihre eigenen Enkel zur Welt und übergab sie ihrer Tochter, der genetischen Mutter und gleichzeitig Schwester der Kinder." - Volker und Antje Diehl, Ethische Herausforderungen in der Medizin. In: Hans Thomas: Menschlichkeit der Medizin, Verlag Busse + Seewald, Herford 1993, S.24)
14 Über das Zitat hinaus kann man den Gedanken weiterführen: "Ein fünf Monate alter weiblicher Fötus hat in seinen Eierstöcken bereits alle Eier, die die zukünftige Frau je hervorbringen wird. Und wenn sich nun jemand ihrer bedienen will? Wenn wir uns allzu sehr an den Gedanken des Klonens von Embryonen zu medizinischen Zwecken gewöhnen, werden wir dann wissen, wann wir aufhören sollen?" Francis Fukuyama, a.a.O. S. 247
15 Ulrich Greiner, Warum wollen wir Kinder?, in: DIE ZEIT 47/2001
16 Nach meiner Kenntnis ist der freie Samstag Anfang der 70er Jahre in Folge der Ölkrise in die Diskussion gekommen (Reduzierung der Heizkosten!) und zunächst an den Grundschulen eingeführt worden. Danach sollte die 5-Tage-Woche mit dem Handlungskonzept der Landesregierung zur Effizienzsteigerung im Schulwesen verpflichtend eingeführt werden. Und schon 1991 habe ich gefragt: "Soll sie als Bonbon für Eltern und Schüler von den anderen Regelungen ablenken?" vgl. meine Ausführungen zur 5-Tage-Woche, in: Jahresbericht des St. Ursula-Gymnasiums Brühl 1991, S. 128f.
17 In der Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln vom 6.6.03 wird auf die gemeinsame Erklärung der 5 NRW Diözesen hingewiesen: "Die unterzeichnenden Bischöfe bemängeln, dass der Staat das teilweise bestehende "Erziehungsvakuum" der Erziehungsberechtigten an sich ziehe. Die Bischöfe verweisen auf die Verfassung des Landes NRW, in der geregelt sei, dass Bildung und Erziehung "natürliches Recht" der Eltern ist. Ihr Erziehungsbeitrag sei nicht zu ersetzen. […] Ausgehend vom Wohl des Kindes, können nach Ansicht der Bischöfe Ganztagsangebote nur familienergänzend und nicht familienersetzend sein. […] Die Kosten sind so veranschlagt, dass mit dem Geld für einen Hortplatz vier Plätze in der Offenen Ganztagsgrundschule finanziert werden können."
18 Zitiert nach: Clemens Breuer, Auf Dauer wirkliche schlauer? , in: Die Tagespost vom 7. Juni 2003, S. 10
19 Noch schlimmer: "Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung" hatte das bereits vor der Wahl die damalige Familienministerin Christine Bergmann (SPD) genannt. Zitiert nach: Christa Meves, Drängende Zweifel an der Lufthoheit, in: Rheinischer Merkur Nr. 51/52, 19.12.2002
20 vgl. Michael Ende, Momo: "Aber ich", sagte ein kleines Mädchen, "ich darf jetzt jeden Tag ins Kino, wenn ich mag. Damit ich aufgehoben bin, weil sie leider keine Zeit haben." Und nach einer Pause setzte es hinzu: "Ich will aber nicht aufgehoben sein. […]" Jetzt wandte sich ihnen plötzlich der Junge mit dem Kofferradio zu und sagte: "Aber ich, ich kriege jetzt viel mehr Taschengeld als früher!" "Klar!", antwortete Franco, "das machen sie, damit sie uns loswerden! Sie mögen uns nicht mehr. Sie mögen überhaupt nichts mehr. Das ist meine Meinung." "Das ist nicht wahr!", schrie der fremde Junge zornig. "Mich mögen meine Eltern sogar sehr. Sie können doch nichts dafür, dass sie keine Zeit mehr haben. Das ist eben so. Dafür haben sie mir aber jetzt das Kofferradio geschenkt. Es war doch sehr teuer. Das ist doch der Beweis – oder?" Alle schwiegen. Und plötzlich fing der Junge, der den ganzen Nachmittag der Spielverderber gewesen war, zu weinen an." – Zitiert nach Wolfgang Pelzer, Aufmerksamkeit schenken, in: Welt des Kindes. Fachzeitschrift für Kindertageseinrichtungen, Mai/Juni 2003, S.9. Pelzer führt dazu aus: "Was die Kinder in Michael Endes Roman in ihrer traurigen Versammlung besprechen, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern [….]: Mit den Kindern kann es nichts werden, wenn die Erwachsenen keine Zeit mehr haben. [Er verweist auf Astrid von Friesen, Geld spielt keine Rolle: Erziehung im Konsumrausch. Reinbek, 1991.] Sie skizziert […] immer wieder den gleichen Kreislauf, in dem die Kinder umherjagen wie die Hamster im Laufrad: kaufen – verzehren, kaufen – verzehren, kaufen – verzehren."
21 "Der Kinderarzt und Jugendpsychiater Johannes Pechstein lässt die Vorteile der Ganztagsschule für Kinder unter 12 Jahren nur aus sozialen Sondersituationen heraus gelten: Alle Institutionen der Ganztagsbetreuung von der Krippe bis zum Hort sowie die Ganztagsschule sind in Wahrheit Einrichtungen zur Hilfe für Erwachsene. ‚Dem Kindeswohl widersprechen sie: Je jünger die Kinder sind, desto mehr!' Innerlich starke und balancierte vielseitige Persönlichkeiten – so Pechstein – wachsen demgegenüber am ehesten in einer anfangs dominierten Familienerziehung mit später vertrauensvollem Halbtags-Miteinander von Familien, Kindergärten und Schulen auf." – Clemens Breuer, a.a.O.
22 Interview mit Hans Apel, in: Die Tagespost vom 7. Juni 2003 – Kritisch äußert sich auch der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger in seinen Ausführungen zu den Lesungen des Dreifaltigkeitssonntags (Lesejahr B), in: Die Tagespost vom 14.06.03: "'Der Dalai Lama auf dem Kirchentag…' las ich kürzlich in der Zeitung. Warum nicht in die Breitwe gehen und die Fülle auf dem Markt religiöser Möglichkeiten wahrnehmen? Ökumenismus als Begaffen von und Schnuppern an. […] Diese neue Bewegung geht konsequent den Weg vom Interkonfessionellen zum Interreligiösen und mag in der Tat religiös in irgendeinem Sinne sein. Aber ihr fehlt das prophetische Element der Nicht-Gleichgültigkeit. Daher kann mir diese Art von Religion gestohlen bleiben. Sie tendiert zu interreligiöser Mystik – für den Neutestamentler ein Gräuel!"
23 "Die Tatsache, dass zwar die philosophischen Strömungen der Aufklärung, nicht aber das Christentum erwähnt würden, sei [so Kardinal Tauran] eine ‚ideologische Entscheidung mit der dreisten Absicht, die Geschichte umzuschreiben'." Rudolf Zewell, in: Rheinischer Merkur vom 12.06.03 – Umgeschrieben wird die Geschichte wohl auch vom türkischen Botschafter Osman Korutürk, der im Internet-Jugendmagazin der Bundesregierung (www.schekker.de") erklären darf: "Die antiken Wurzeln der europäischen Identität liegen im Grunde in dem Gebiet der heutigen Türkei. Vor cirka tausend Jahren haben sich die Türken in diesem Gebiet niedergelassen. Sie haben es geschafft, die von ihnen mitgebrachte Kultur Zentralasiens mit der islamischen Kultur und der ursprünglichen Kultur Anatoliens, miteinander zu verschmelzen."
24 Die Tagespost vom 7.6.03
25 Stephan Baier, Europa ohne Gottes Rechte, in: Die Tagespost vom 14.06.03
26 Joh 1,14
27 "Alles ist durch es [das Wort] geworden, und ohne es ist nichts geworden. Was geworden ist – in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen." Joh 1,3f.
28 Joh 1,14
29 Mit dem Schwinden des Glaubens tritt an die Stelle des ewigen Heils in Gott die Sehnsucht nach ewiger medizinischer Heilung durch die Götter in Weiß. Vgl. Manfred Lütz, LebensLust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult, München 2002


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