Verabschiedung der Abiturientia 2008
des Erzbischöflichen St. Ursula-Gymnasiums in Brühl
am 14. Juni 2008

Ansprache von OStD i.K. Werner Otte




Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

„Den eigenen Namen in der Zeitung lesen, das eigene Gesicht auf Plakaten sehen: Fame erzählt die Geschichte von jungen Künstlern, die nichts weniger als Stars werden wollen – beneidet, geliebt, gefeiert, unvergessen. Und der Weg zum Ruhm ist leidenschaftlich, riskant und atemberaubend.

Ihre Vorbilder haben es bereits geschafft:“ [Benedikt Pelzer, Anna Sahm, Charlotte Menke, Sarah Wülfrath, Julia Mayer]. Sie alle sind Absolventen [des Erzbischöflichen St. Ursula-Gymnasiums in Brühl].

„Genau dorthin woll[t]en all die angehenden Musiker, Tänzer und Schauspieler. […] [Neun] Jahre lang [wurde] die Schule zum Mittelpunkt ihres Lebens, zum Schauplatz von schweißtreibendem Training, Liebe, Intrigen und schmerzvollen Erkenntnissen.“

Wem diese Sätze trotz der Verfremdung bekannt vorkommen, der hat das Programmheft der Fame-Aufführungen gründlich gelesen, vier Aufführungen, die nicht nur ich nach wie vor für sensationell gut halte.

Ebenso wie die Aufführungen selbst hat mir aber der Satz gefallen, den ich danach auf unserer Homepage gefunden habe: „Ich hätte nie gedacht, dass wir so etwas können.“

Dieser Satz geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf; denn er beschreibt exakt, was ich als die eigentliche Aufgabe von Schule ansehe: jungen Menschen vermitteln, dass sie etwas können, und ihnen dadurch Selbstbewusstsein vermitteln und den Mut, sich neuen Aufgaben zu stellen, ohne vorweg immer die bange Frage zu stellen: „Kann ich das überhaupt?“

Fame hat gezeigt – und nicht nur den Mitwirkenden aus der Stufe 13, es waren ja auch viele andere aus den Klassen 8-12 beteiligt! - Fame hat den Akteuren offenbar gezeigt, dass man Ziele erreichen kann, die man sich vorher nicht unbedingt zugetraut hat. Und allein deshalb waren die Aufführungen so wichtig.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern, ich hoffe, Sie werden bestätigen, dass diese Intention an unserem Gymnasium nicht erst bei „Fame“ Premiere hatte. Es fängt schon immer bei den Kleinsten an. Denken Sie z.B. zurück an den Bunten Abend der Erprobungsstufe am 30. Mai 2000, bei dem es „Tierisch vergnügt“ zuging.“ 1 Alle Schülerinnen und Schüler wurden von ihren Klassenlehrern - Herr Grugel (5a), Frau Neuhaus (5b), Frau Adrian-Balg (5c) und Herr Menke (5d) - in irgendeiner Weise einbezogen, und gemeinsam mit der Jazz-AG von Herrn Lindner und dem Unterstufenchor von Frau Ankermann wurde projektorientiert gearbeitet - klassenübergreifend, jahrgangsübergreifend, fächerübergreifend, kollegial.

Sie können sich kaum vorstellen, was an Logistik notwendig ist, einen solchen Abend für 260 Kinder zu konzipieren und mit ihnen zu realisieren - und das parallel zum laufenden Unterricht, parallel zu den Abiturprüfungen und zu den letzten Klassenarbeiten und Klausuren am Schuljahrsende – alle Jahre wieder.2 Aber sind Fame und andere Projekte letztlich nicht nur deshalb denkbar, weil unser Kollegium keine Arbeit scheut, unsere Schüler von Anfang an ein anregendes Umfeld erleben zu lassen?3

Das gilt übrigens auch für das Auftreten des Unterstufenchors am Ende dieser Feier: Die Kinder werden nicht etwa nur als nette Kulisse „benutzt“ nach dem Motto „Kinder mit Blumen machen sich immer gut!“, sondern sie sollen auch ein anregendes Umfeld erleben und ein wenig in die Kultur des Feierns eingeführt werden wie viele von Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, vor 9 Jahren. Im Jahresbericht 2000 können Sie es nachlesen: „Den heiteren Abschluss der Feier bildete wieder der Unterstufenchor [..] mit den Liedern „Sambalele, kleiner Chiko“, „Top of the world“ und „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ und natürlich mit Blumen. Wir wünschen den Kleinen, dass sie in einigen Jahren die Rollen tauschen und selbst Blumen bekommen.“4 Heute ist es soweit.

Daher möchten wir auch in Zeiten der Schulzeitverkürzung die Proben des Unterstufenchors möglichst nicht in die 7. Stunde verschieben; denn zur 1. Stunde kommen immer rund 200 Kinder freiwillig zum Singen. Ob sie dafür nach einer 6. Stunde blieben, ist eher unwahrscheinlich. Es wäre aber für diese große Zahl von Schülern eine „Verarmung“ des Schullebens und ihrer eigenen Entwicklung, wenn sie nicht mehr singen würden. Die „Verkopfung“ der Schule würde für sie zunehmen. Positiv formuliert: durch den Unterstufenchor bekommen die Kinder eine zusätzliche Förderung, auch im Sozialverhalten; denn Erfolg und Rücksichtnahme bedingen einander. Der Erfolg hängt davon ab, dass nicht jeder singt, was er will bzw. was er für richtig hält; man muss sich an die Vorgaben der Noten halten, man muss gemeinsam einsetzen, man muss aufeinander hören usw. und man muss bereit sein Zeit zu investieren, wenn andere unterrichtsfrei haben.

Dasselbe gilt für die zahlreichen Schülerinnen und Schüler, die danach im Schulchor mitmachen oder in der Bigband oder im Sinfonie-Orchester, die über Jahre hinweg Konzerte mitgestalten, anderen mit ihrer Musik Freude bereiten und das Schulleben bunter machen, die Erfolg durch das eigene Tun erleben und dadurch an Selbstbewusstsein gewinnen. Liebe Eltern, verehrte Gäste, schauen Sie sich die jungen Leute auf der Bühne an! Ist das nicht ein wunderbares Bild?

Wunderbare Bilder sind es auch, die seit gestern im 1. Stock hängen, Bilder von Swenja Wirtz, die sie - von Herrn Kroll betreut - als „Besondere Lernleistung“ in ihre Abiturnote eingebracht hat. Wahrscheinlich hat auch Swenja in der Klasse 5 nie gedacht, dass sie so etwas einmal schaffen würde; doch nun wird sie auf längere Zeit in der Schule präsent sein und mit ihren Bildern belegen, dass auch unsere Kunstlehrer einen wichtigen Beitrag zu einer ganzheitlichen Erziehung junger Menschen leisten, für eine umfassende Bildung, gegen eine einseitige Ausbildung, wider die einseitige „Verkopfung“ der Schule. 5

Daher hat auch der Sport bei uns einen hohen Stellenwert, sowohl im Klassenunterricht als auch in einer Reihe von AGs; daher gibt es Bundesjugendspiele für die Unter- und Mittelstufe, Lauftage für alle und Mannschaftswettkämpfe außerhalb der Schule, bei denen z.B. die Lauf-AG mit Daniela Huthmacher, Anna Lüssem, Susanne Schweizer, Stefan Hockamp, Jens Hopperdietzel, Klaus Wittenstein, Sven Witthöft und Jonathan Zopes zweimal den Bonn-Marathon und zweimal den Köln-Marathon gewonnen hat.

Wieder andere von Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, haben in verschiedenen Fächern an Wettbewerben und Akademien teilgenommen, haben bei uns Beleuchtungs- und Beschallungstechnik „studiert“ und dadurch alle Aufführungen innerhalb und außerhalb der Schule unterstützt oder haben wie Kim Balve, Tanja Rerich, Andreas Blumberg und Philipp Schrage die Moderation des Schulballs übernommen und dabei an Selbstbewusstsein gewonnen.

Das gilt auch für die Besuche von Günter Verheugen6 und Norbert Lammert7, die ja nicht von der Schulleitung eingeladen worden sind, sondern von Schülern, von Sven Witthöft und Markus Kaufmann. Und vielleicht gilt auch für sie der Satz: wir hätten nie gedacht, dass wir so etwas können. Aber wie sie es konnten! Ich brauchte mich eigentlich um nichts zu kümmern. Die Schüler haben eingeladen, haben die Begrüßung, die Vorstellung und die Gesprächsleitung professionell übernommen, haben die Dankworte gesprochen und ein Präsent überreicht und hatten vorher Presse und Rundfunk eingeladen. Alles in eigener Regie. Die Schule hat nur logistisch geholfen. Ein Glücksfall.


Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wenn es um die Stärkung von Schülern geht, darf man aber nicht nur an die Highlights denken, die auch außerhalb der Schule in der Presse Beachtung finden, sondern mindestens ebenso wichtig ist das, was Tag für Tag in den Unterrichtsräumen geschieht: das ganz normale Lehren und Lernen. Dabei muss es natürlich um Wissensvermittlung gehen, und so ist es sicher nicht falsch, wenn aktuell Bildungsstandards und Kompetenzstufen definiert werden und zentrale Prüfungen eingerichtet werden; doch darf man nicht glauben, dass ein Schwein allein vom Wiegen fetter wird. Meiner festen Überzeugung nach sollten Schüler nicht nur mit Lernstoff gefüttert werden und mit Fachwissen „Fett ansetzen“, sondern sollten nach dem Abitur, der Matura, der Reifeprüfung wirklich ein Stückchen „gereifter“ ins Leben gehen.

Deshalb gefällt mir neben dem eingangs zitierten Satz ein ähnlicher Satz so gut, den ich bei dem brasilianischen Autor Paulo Coelho gefunden habe: „Lehren heißt zeigen, dass etwas möglich ist. Lernen heißt, seine eigenen Möglichkeiten ausloten.“8 – Das ist die Aufgabe von Schule: möglichst vielen jungen Menschen in möglichst vielen Bereichen „Impulse geben für das Leben“9, ihnen zeigen, dass etwas möglich ist, und ihnen Gelegenheit geben, die eigenen Möglichkeiten auszuloten. Und deshalb freue ich mich, dass bei der Mitteilung der Ergebnisse der mündlichen Prüfungen im 4. Fach die allermeisten von Ihnen mit sich und ihrer Leistung zufrieden waren. Die Lehrer haben Ihnen also offenbar gezeigt, dass etwas möglich ist, und Sie haben Ihre Möglichkeiten ausgelotet und der ein oder andere ließ anklingen: ich hätte nie gedacht, dass ich das könnte.

Dass Sie Ihre Möglichkeiten weitgehend ausgelotet haben, zeigt ein kurzer Blick auf die Prüfungsergebnisse im 4. Fach; denn die Durchschnittsnote aller 119 Prüfungen ist genau 2,2. Zu diesem guten Schnitt kommt es, weil 102 von Ihnen, also 86 Prozent des Jahrgangs, mindestens die Note „befriedigend“ erreicht haben, 76 - und damit 64 Prozent - die Noten „gut“ oder „sehr gut“, 41 die Note „gut“ und 35 die Note „sehr gut“ und davon noch einmal 18 sogar die Note „sehr gut plus.

Ihre Möglichkeiten ausgelotet haben Sie auch in anderen Bereichen:

8 von Ihnen haben sich freiwillig zu mündlichen Prüfungen gemeldet mit dem Ziel, die Endnote um 0,1 zu verbessern,
34 von Ihnen haben im vergangenen Schuljahr an Zertifikatsprüfungen in Italienisch teilgenommen und 3 an den DELF-Prüfungen in Französisch.
drei von Ihnen haben Schulzeitverkürzung in eigener Regie betrieben und durch das Überspringen einer Klasse das Abitur nach 12 Jahren geschafft.
elf von Ihnen – und damit so viele wie noch nie! – erhalten heute das Abiturzeugnis, die erst nach der 10. Klasse der Realschule zu uns gekommen sind. Ihnen möchte ich ganz besonders gratulieren.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, natürlich sind Sie nicht alle hundertprozentig mit sich und mit uns zufrieden; das ist aber trotz allen menschlichen Bemühens nie zu vermeiden und so wird auch im Fame-Programmheft auf „schmerzvolle Erkenntnisse“ während der Schulzeit hingewiesen. „Nichts ist vollkommen“, lässt Saint-Exupérie den Fuchs zum kleinen Prinzen sagen, vorletzte Woche meinte die evangelische Bischöfin Margot Käsmann in einem Interview, sie kenne kein einziges Leben ohne Brüche, und auch meine Lebenserfahrung sagt: „Nichts im Leben geht glatt.“ Dies ist aber nicht etwa Ausdruck einer depressiven Grundhaltung, sondern im Gegenteil ein Antidepressivum. Es gibt bei jedem von uns früher oder später immer auch die kleineren oder größeren Enttäuschungen, die schmerzhaft sind und die u.U. lange anhalten. Dies aushalten zu lernen ist für das Reifen des Menschen aber notwendig. Erst dann ist man erwachsen - früher oder später.

Dies haben auch die unter Ihnen erfahren, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, die vor einem Jahr mit Herrn Meyer Molieres „Der eingebildete Kranke“ zur Aufführung gebracht haben, eine Aufführung, an die ich mich ebenfalls sehr gerne erinnere, eine Aufführung, bei der Sie erfahren haben, dass ein großes Projekt nur in Teamarbeit zu verwirklichen ist, und an dessen Ende Sie nach dem verdienten Applaus der Zuschauer sicher auch gemeint haben: wir hätten nie gedacht, dass wir so etwas können.

Doch wie groß war Ihre Enttäuschung, als Sie die Kritik in der Zeitung lasen! Sie fanden sich ungerecht beurteilt und überlegten aufgebracht, wie Sie darauf reagieren sollten. Rückblickend sehen Sie die Sache wahrscheinlich schon viel gelassener, weil die Welt nicht untergegangen ist. Sie haben für sich die wichtige Erfahrung gemacht, dass man sich immer der Kritik aussetzt, wenn man etwas in der Öffentlichkeit macht, und dass man trotz der Überzeugung, etwas gut gemacht zu haben, von der Kritik nicht unbedingt mit Lob bedacht wird. Das gilt aber auch für professionelle Schauspieler und Regisseure, das gilt erst recht für Politiker, das gilt auch für Lehrer und Schulleiter.

Und so sehen Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, heute nicht unglücklich aus, sondern scheinen zuversichtlich nach vorn zu blicken, weil Sie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewonnen haben.

Ein solches Vertrauen fällt nicht vom Himmel, sondern ist immer geerdet. Das fängt bei den Eltern an, ob sie vom ersten Tag an die Zukunft ihrer Kinder im Blick haben und sie in jeder Beziehung fördern, ob sie ihren Kindern Anregungen geben, ob sie dabei ihre eigenen Interessen hintanzustellen bereit sind, ob sie Anteil nehmen am Tun ihrer Kinder, Anteil nehmen auch am Leben der Schule ihrer Kinder und ob sie sich dort so weit wie möglich engagieren.

„Wenn eine Gesellschaft Bildung nicht wertschätzt - so Ranga Yogeshwar vom WDR - , kann auch die Schule kein hohes Niveau erreichen.“10 Sie, liebe Eltern, schätzen Bildung, sie haben uns bei unserer Arbeit nahezu immer unterstützt und deshalb kann sich unsere Schule durchaus sehen lassen. Für diese Unterstützung möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken und darf sicher stellvertretend die Mütter nennen, die Tag für Tag in der Bibliothek Aufsicht geführt haben: Frau Hockamp, Frau Koch, Frau Schweizer, Frau Wallraf-Klünter und Frau Schallus-Witthöft.

Wertschätzung von Bildung und Wertschätzung von jungen Menschen zeigt sich an unserem Gymnasium auch in der Unterstützung durch den Verein der Ehemaligen und durch den Förderverein, eine Unterstützung, die Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, im Verlauf Ihrer Schulzeit an manchen Stellen erfahren haben. Sie erscheint oft so selbstverständlich, ist es aber nicht! Und daher danke ich auch Herrn Dr. Merkt und Ihnen, lieber Herr de Koster, für den Förderverein.

Wichtig ist auch das Selbstverständnis der Schule, die Einstellung der Lehrer und ihr Wissen darum, dass nur in einer offenen und angstfreien Atmosphäre Kinder zu selbstbewussten und lebenstüchtigen Persönlichkeiten heranwachsen können. Unser Kollegium, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, hat sich in dieser Hinsicht große Mühe gegeben, ohne sich einzubilden, perfekt sein zu können. Und so möchte ich auch dem Kollegium danken und nenne – wieder stellvertretend für alle – die drei, die Sie durch die Oberstufe begleitet haben: Frau Pickartz, Frau Wortmann und Herr Maurer.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, nun sind Sie am Ende Ihrer Schulzeit angekommen, aber noch nicht am Ende Ihrer Ausbildung. Das Lernen geht weiter. Wir hoffen, dass wir Sie darauf gut vorbereitet haben und dass wir Sie zum eigenständigen Denken anleiten konnten, denn „der Wert der höheren Schulbildung liegt [nach Albert Einstein] nicht im Erlernen von vielen Tatsachen, sondern in der Übung im Denken, die man durch Lehrbücher nie erlernen kann.“11

Eigenständiges Denken, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, brauchen Sie aber nicht nur bei Ihrer weiteren Ausbildung, eigenständiges Denken brauchen Sie ebenso für die Beantwortung vieler anstehender persönlicher und gesellschaftlicher Fragen wie z.B. dieser:

Euthanasie - ja oder nein?
Kinder – ja oder nein?
Pränatale Diagnostik - ja oder nein?
Abtreibung - ja oder nein?12
Forschung an embryonalen Stammzellen - ja oder nein?
Dürfen Wissenschaftler alles, was sie können? Schauen Sie nur nach England, wo ab 2009 so genannte „Chimären“ gezüchtet werden dürfen und nach 14 Tagen getötet werden müssen.13
Hat der frühere Bundespräsident Roman Herzog recht oder unrecht, wenn er vor der Gefahr einer Rentnerdemokratie warnt?
Hat der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof recht oder unrecht, wenn er meint, wir müssten bei der medizinischen Versorgung zu unterscheiden lernen zwischen notwendigen Leistungen, wünschenswerten, hilfreichen, aber auch überflüssigen?14
Haben die recht, die eine Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit fordern, oder die, die nach dem 4. Schuljahr eine Differenzierung nach Schulformen beibehalten wollen?15 Und darf die Entscheidung darüber wie jüngst in Hamburg von Koalitionsverhandlungen abhängen?
Haben die Gewerkschaften und andere - auch christliche - Gruppierungen recht, wenn sie fordern, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können müssen, oder die, die dadurch die Wettbewerbsfähigkeit bedroht sehen? 16
Kann Gewinnmaximierung die einzige Triebfeder wirtschaftlichen Handelns sein oder gibt es auch eine soziale Verantwortung?
Können wir es verantworten, dass Lebensmittel nicht mehr als Mittel zum Leben verwendet werden, sondern als Treibstoff unsere Mobilität bezahlbar halten sollen und dass dadurch die Lebensmittel in anderen Ländern knapp und unbezahlbar werden könnten?

Fragen über Fragen, hinter denen der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ein Grundproblem der Gegenwart sieht: „Tatsache ist, dass ein ethischer Konsens in den grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz schlechterdings nicht mehr vorhanden ist. Die Debatten über die sogenannte aktive Sterbehilfe und über die Möglichkeiten der genetischen Selektion sollten auch den Gutgläubigsten von diesem Befund überzeugt haben.17 Damit sieht sich jeder einzelne auf eine Position zurückgeworfen, der jeder moralische Komfort abhanden gekommen ist. Er kann eine Reihe von existenziellen Entscheidungen an keine verbindliche Instanz mehr delegieren. Weder auf die Politik noch auf die etablierten Religionen kann er sich verlassen, wenn es um seine elementarsten Lebensinteressen geht. Darin liegt eine Überforderung, der die meisten Menschen kaum gewachsen sein dürften.“18

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ist es nicht paradox, dass viele Menschen von der Freiheit überfordert sind, dass sie grundsätzlich alles selbst entscheiden können, aber eben auch entscheiden müssen? Und spätestens dann stellt sich die Frage: Wie entscheide ich richtig? Und woran erkenne ich, was richtig oder falsch ist? Hier suchen Menschen Orientierung und finden sie oft nicht.

Was die Politik betrifft, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, stimme ich Enzensberger zu; denn sie ist letztlich selbst orientierungslos und schaut gebannt auf die Meinung der Wähler. Sie entscheidet nicht mehr, was die Vernunft gebietet, sondern was der Meinung oder den Interessen möglichst weniger widerspricht. Wie ist das zu erklären?

„Die Gefahr der westlichen Welt [...] ist es heute, dass der Mensch gerade angesichts der Größe seines Wissens und Könnens vor der Wahrheitsfrage kapituliert, und das bedeutet zugleich, dass die Vernunft sich dann letztlich dem Druck der Interessen und der Frage der Nützlichkeit beugt.“19

Dieses Zitat von Papst Benedikt ist gleichzeitig ein Beleg dafür, dass Enzensberger die Rolle der Religion für die Orientierung von Menschen zu negativ sieht. Wird nicht gerade unser Papst als moralische Instanz wahrgenommen, der weder den Politikern noch irgendwem sonst nach dem Mund redet und dessen „Regensburger Rede“ einen Dialog mit dem Islam initiiert hat, wie ihn bisher kein Politiker erreicht hat?

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Sie mögen zu Ihrer Kirche stehen, wie Sie wollen; doch die Religion ist praktisch der einzige Orientierungspunkt für Menschen der heutigen Zeit. Und daher ist es gut, dass Sie sich an einer Schule des Erzbistums alle mit Sinn- und Wertfragen auseinandersetzen mussten – nicht nur im Religionsunterricht.

Dadurch sind Sie für die Zukunft gut gerüstet und deshalb könnten und sollten Sie – biblisch gesprochen – mit anderen Christen, mit jungen und alten, mit katholischen, evangelischen und orthodoxen, der Sauerteig unserer Gesellschaft werden, in der es nicht um „Fame für wenige“ gehen sollte, sondern um ein möglichst „erfülltes Leben für alle“.

In diesem Sinne möchte ich Ihnen zum Schluss ein paar Sätze aus dem Grußwort unseres Papstes an die Teilnehmer des Katholikentags in Osnabrück mit auf den Weg geben in der Hoffnung, dass Sie später irgendwann sagen: ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas kann:

„Überlaßt die Gestaltung der Zukunft nicht nur anderen, sondern bringt euch selbst mit Phantasie und Überzeugungskraft in die Debatten der Gegenwart ein! [...] Nehmt mit dem Evangelium als Maßstab aktiv am politischen und gesellschaftlichen Geschehen in eurem Land teil! Wagt die Mitgestaltung der Zukunft [...] in Verbundenheit mit den Priestern und Bischöfen! Mit Gott im Rücken könnt ihr mutig handeln, denn Er ist es, der uns versichert: „Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben" (Jer 29, 11).“20


Leben Sie wohl!






Endnoten

1 Jahresbericht 2000, S. 32f

2 (Seit 2 Jahren kommen in dieser Phase des Schuljahrs noch die Zentralen Prüfungen in der Klasse 10 (mit Zweitkorrektur) und die Lernstandserhebungen in der Klasse 8 dazu

3 „Großen Respekt vor Lehrern hat der Regisseur Detlev Buck, der sich in seinem Film ‚Knallhart’ eingehend mit Jugendgewalt im Berliner Bezirk Neukölln befaßt hat. Befragt nach der trostlosen Lage an der Rütli-Hauptschule, sagte er: ‚Wir leben in einer Ego-Gesellschaft, in der es nicht unbedingt belohnt wird, an die nächste Generation zu denken. Deswegen bewundere ich auch all die Lehrer, die trotz des Stresses, dem sie in der Schule ausgesetzt sind, nicht zynisch werden.’" - DIE WELT vom 1. April 2006

4 Jahresbericht 2000, S. 55

5 Die Kosten für den Druck und die Rahmen der Bilder hat dankenswerterweise der Förderverein übernommen.

6 Günter Verheugen ist Vizepräsident der Europäischen Kommission und zurzeit als EU-Kommissar zuständig für Unternehmen und Industrie.

7 Dr. Norbert Lammert ist Präsident des Deutschen Bundestags.

8 Paulo Coelho, Auf dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Diogenes Taschenbuch 23115, S. 172

9 So lautet das Motto unserer Arbeit auf dem Schul-Logo.

10 Er fährt fort: „Wir haben in Deutschland einen Zustand erreicht, der vergleichbar mit einem Auto in einer geschlossenen Garage ist. Was anfangs dazu geführt hat, dass unsere Wirtschaft sich entwickelt – Maschinenbau, Physik, Chemie - , erlahmt nun. Wir haben es verpasst, das Signal auszusenden ‚Macht weiter, wir brauchen mehr Innovationen’. Stattdessen geht das Signal in die Richtung ‚Kauf mich’.“, in: Mobil, Magazin der Bahn, Nr. 09 /06, S. 10

11 Zitiert nach. Jokers – Bücherkatalog Sept. 2007, S. 80

12 Nach meiner Auffassung finden bei der Beurteilung der Abtreibung Stimmen wie die folgenden in der Öffentlichkeit zu wenig Verbreitung: „Ich wäre gern noch einmal jung, um das Kind zu bekommen, das ich nie bekommen habe. Wenn ich etwas bedauere, dann das.“ – Hanna Schygulla, Schauspielerin, bekannt u.a. durch Filme vom Rainer Werner Fassbinder – in einem Interview mit der Welt am Sonntag vom 23.09.2007, S. 92 – oder: „Gitte Haenning (58), Sängerin, […] bereut auch, abgetrieben zu haben. ‚Zweimal war ich schwanger, zweimal habe ich nicht den Mut gehabt, es auszutragen, weil ich das Gefühl hatte, dass beide Männer nicht zu mir standen.’ Heute wisse sie, dass dies ein Fehler war.“ – Zitiert nach: Kölnische Rundschau, 2004, Datum nicht bekannt.

13 Vgl. dazu Stefan Rehder, Homo inhumanus, in: DT vom 24.05.2008: „Nach dem Willen der britischen Parlamentarier wird dann auch die auf der Insel bereits praktizierte Schaffung sogenannter Chimären legal sein. Mit den aus der griechischen Mythologie bekannten Fabelwesen – halb Mensch, halb Tier – haben diese Chimären jedoch genauso wenig gemein wie ein als „Rindvieh“ verunglimpfter Mensch mit der Gattung der Hornträger. Denn die als „Mensch-Tier-Mischwesen“ oder auch als „cytoplasmische Hybride“ etikettierten, im Labor erzeugten Chimären, aus denen Wissenschaftler embryonale Stammzellen für die Forschung gewinnen wollen, sind in Wahrheit menschliche Klone. Klone, deren DNA zu 99,9 Prozent aus dem Erbgut bereits geborener Menschen und nur zu 0,1 Prozent aus tierischem Erbgut besteht. Und nicht einmal das ist gewollt, sondern bloß den Umständen geschuldet: Weil das Klonen überhaupt nicht funktioniert, wenn die Eizelle, in die das Erbgut des zu kopierenden Individuums eingebracht werden soll, restlos entkernt wird, muss für eine fachgerechte Herstellung eines Klons die sogenannte Mitochondrien-DNA der Eizelle erhalten bleiben. Und weil die Eizellen von jungen, gesunden Frauen in Großbritannien – wie andernorts – sowohl rar als auch teuer sind, bedienen sich die Wissenschaftler statt bei Frauen nun bei Kühen. Für den moralischen Status der Wesen, die auf diese Weise erzeugt werden, ist das völlig unerheblich. Weder der geringe Anteil tierischen Ausgangsmaterials noch das Verfahren, mit dem sie ins Leben gerufen werden, ändern daran etwas. Ein genetisch manipulierter menschlicher Embryo ist ein genetisch manipulierter Mensch im Frühstadium seiner Entwicklung – und nichts anderes. Wer daran Zweifel hegt, braucht nur zu fragen, ob einem Menschen, dem man in Ermangelung eines geeigneten Organs eine Schweine-Niere transplantierte, dadurch zu einem Mischwesen würde und anschließend einen anderen moralischen Status besäße als vor einer solchen Xenontransplantation? Da die korrekte Antwort auf diese Frage zweifellos „Nein“ lautet, bedeutet dies: In Großbritannien erlaubt demnächst ein Gesetz, manipulierte Menschen für die Forschungsvorhaben zu erzeugen, die, so sieht es das Gesetz weiter vor, nach 14 Tagen getötet werden müssen. Auf diese Weise soll – was für eine Farce – ein Missbrauch der Klontechnik ausgeschlossen werden.“

14 Paul Kirchhof, Das Gesetz der Hydra. Gebt den Bürgern ihren Staat zurück! Droemer-Verlag 2006, S. 153ff: Ärztliche Behandlung nach Dringlichkeit.

15 Beachten Sie: Die OECD hat bisher regelmäßig die Aufhebung des gegliederten Schulewesens gefordert, aber „der jüngste EU-Sozialbericht stellt die verbreitete Kritik am dreigliedrigen Schulsystem in Deutschland in Frage“ - Kölnische Rundschau vom 24. Mai 2008

16 (16) Haben Sie schon einmal ausgerechnet, wie viel Geld jemand in einer 40-Stunden-Woche bei nur 7,- Euro pro Stunde im Monat verdient?

17 (17) „Der Normalfall wird bald sein: Verhinderung von Behinderung durch Verhinderung von Behinderten – Tötung mit anderen Worten – nach wissenschaftlich präzisen vorgeburtlichen diagnostischen Maßnahmen wie Präimplantationsdiagnostik oder, später und mühsamer, Pränataldiagnostik.“ Manfred Lütz, in: LebensLust. Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult. München 2002, S. 111

18 Hans Magnus Enzensberger: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt a.M. 2002

19 Benedikt XVI., Der Glaube – eine reinigende Kraft für die Vernunft - Die nicht gehaltene Vorlesung von Benedikt XVI. an der „Sapienza – Università di Roma“, Rom, 17. Januar 2008. Die Vorlesung wurde nicht gehalten, weil der Papst, der von der Universität anlässlich der Eröffnung des akademischen Jahres eingeladen worden war, auf Druck zahlreicher Studenten und Professoren wieder ausgeladen wurde.

20 Papst Benedikt XVI., Grußwort an die Teilnehmer des Katholikentags 2008 in Osnabrück, Aus dem Vatikan, am 11. Mai 2008, Pfingstsonntag, Libreria Editrice Vaticana


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